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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Refrain am Schaft und schieben ihn mit der Zwischenzeile wieder zurück und bahnen sich so Wache für Wache ihren Weg.
    Als es bald Tag zu werden schien, bemerkte ich auf dem schwarzen Band des Wasserlaufs eine Reihe von Lichtern, die keine Schiffslampen, sondern sich von Ufer zu Ufer spannende, unbewegliche Feuer waren. Es handelte sich um eine Brücke, die ich schließlich nach langer Wanderung durch die Nacht erreichte. Das plätschernde Ufer verlassend, stieg ich über eine verfallene Treppe von der Wasserstraße zur höher gelegenen Brücke empor und fand mich mit einemmal als Akteur in einer neuen Szenerie wieder.
    Auf der Brücke war es so hell, wie es auf der Wasserstraße finster gewesen war. Auf schwankenden Masten steckten Fackeln etwa alle zwanzig Schritt, und in Abständen von ungefähr zweihundert Schritt klebten auf den Brückenpfeilern Erkertürmchen, deren Wachstubenfenster wie Feuerwerke strahlten. Laternenbestückte Kutschen ratterten vorüber, und die meisten Leute, die sich auf dem Gehsteig drängten, wurden von Fackelträgern begleitet oder trugen selbst Lichter. Händler priesen lauthals ihre Waren an, die sie auf umgehängten Bauchläden darboten; Fremde plapperten in wirren Sprachen und Bettler, die ihre Wunden zur Schau stellten, gaben vor, Flageolett und Ophikleide zu spielen, und kniffen ihre Kinder, um sie zum Weinen zu bringen.
    Ich gestehe, daß all dies mich sehr gefesselt hat, obwohl meine Erziehung mich davon abgehalten hat, es zu begaffen. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und den Blick entschlossen nach vorne gerichtet, schritt ich scheinbar gleichgültig durch die Menge; jedoch spürte ich zumindest für einen Moment meine Müdigkeit dahinschmelzen, und meine Schritte wurden wohl um so länger und rascher, als ich bleiben wollte, wo ich war.
    Die Posten in den Erkertürmchen waren keine städtischen Wachtmeister, sondern Peltasten in leichter Rüstung mit durchsichtigen Schilden. Ich hatte fast schon das Westufer erreicht, als zwei davon vortraten und mir mit ihren blitzenden Lanzen den Weg versperrten.
    »Es ist ein Verbrechen, in diesem Aufzug herumzugehen. Wenn du einen Scherz oder Streich beabsichtigst, bringst du dich seinetwegen in Gefahr.« Ich entgegnete: »Ich bin berechtigt, die Tracht meiner Zunft zu tragen.«
    »Behauptest du also allen Ernstes, ein Scharfrichter zu sein? Ist das ein Schwert, was du da bei dir hast?«
    »Ja, aber ich bin kein solcher. Ich bin ein Geselle des Ordens der Wahrheitssucher und Büßer.«
    Es herrschte Schweigen. An die hundert Menschen hatten sich in den wenigen Augenblicken, derer es bedurfte, die Frage zu stellen und meine Antwort hierauf zu erhalten, um uns versammelt. Jener Peltast, der nicht gesprochen hatte, sah den anderen an, als wollte er sagen: 's ist sein Ernst, woraufhin er sich in der Menge umblickte.
    »Komm rein! Der Hauptmann will mit dir reden.«
    Sie warteten, während ich ihnen durch die schmale Tür vorausging. Das Innere hatte nur eine einzige kleine Stube aufzuweisen, die mit einem Tisch und ein paar Stühlen ausgestattet war. Ich bestieg eine niedrige, von vielen Stiefeln ausgetretene Treppe. In der Kammer darüber schrieb ein Mann in einem Brustharnisch an einem Stehpult. Die Schergen waren mir gefolgt, und als wir vor ihm standen, sagte derjenige, der vorher das Wort geführt hatte: »Das ist der Mann.«
    »Weiß ich«, antwortete der Kürassier ohne aufzublicken.
    »Er nennt sich einen Gesellen der Zunft der Folterer.«
    Der Federkiel, der bis jetzt unentwegt auf- und abgeglitten war, hielt kurz inne. »Hätte nie gedacht, so einem je außerhalb der Seiten eines Buches zu begegnen, aber ich sehe, er sagt nur die Wahrheit.«
    »Sollen wir ihn denn freilassen?« fragte der Soldat.
    »Noch nicht.«
    Nun wischte der Kürassier seinen Federkiel ab, bestreute den Brief, mit dem er sich abgemüht hatte, mit feinem Sand aus einer Dose und sah zu uns auf.
    Ich sagte: »Deine Knechte haben mich aufgehalten, weil sie bezweifeln, daß ich diesen Mantel zu Recht trage.«
    »Sie haben dich aufgehalten, weil ich's befohlen habe, und befohlen hab' ich's, weil du gemäß einer Meldung vom Ostufer Unruhe verursacht hast. Wenn du von der Zunft der Folterer bist – offengestanden habe ich geglaubt, daß sie längst Reformen zum Opfer gefallen wäre –, hast du dein ganzes Leben in ... Wie heißt's gleich wieder?«
    »Machatin-Turm.«
    Er schnippte mit den Fingern und machte ein zugleich belustigtes und gekränktes Gesicht. »Ich

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