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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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irgendwann mußte ich in eine falsche Gasse eingebogen sein. Denselben Weg wollte ich jedoch nicht zurückgehen, also versuchte ich, eine grobe nördliche Richtung beizubehalten, wobei ich mich mit dem Gedanken tröstete, daß mich jeder Schritt der Stadt Thrax näherbrächte, auch wenn ich mich verirrt hätte. Schließlich entdeckte ich ein kleines Wirtshaus. Ich sah kein Schild, das es vielleicht gar nicht gab, aber ich roch Küchenduft und hörte das Klappern von Bechern; also stieß ich die Tür auf, trat ein und ließ mich auf einem alten Stuhl in der Nähe des Eingangs nieder, ohne mich viel darum zu kümmern, wo ich gelandet war oder in wessen Gesellschaft ich geriet.
    Als ich so lange gesessen hatte, daß ich wieder bei Atem war und mich nach einem Plätzchen sehnte, wo ich meine Stiefel ausziehen könnte (obwohl ich noch lange nicht bereit war, aufzustehen und mir eines zu suchen), erhoben sich drei Männer, die in einem Winkel gezecht hatten, und gingen; ein alter Mann, der wohl einsah, daß ich sein Geschäft verdarb, kam herüber und wollte wissen, was ich wünschte. Ich antwortete, ich wolle ein Zimmer.
    »Wir haben keins.«
    Ich sagte: »Macht nichts – ich habe sowieso kein Geld.«
    »Dann geh wieder!«
    Ich schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich bin zu müde.« (Andere Gesellen hatten mir erzählt, daß sie diesen Trick in der Stadt verwendet hätten.)
    »Du bist ein Scharfrichter, nicht wahr? Du schlägst Köpfe ab.«
    »Bring mir zwei dieser Fische, die ich rieche, und es werden dir nur die Köpfe übrigbleiben.«
    »Ich kann die Schildwache rufen. Sie werfen dich raus.«
    Ich erkannte in seinem Tonfall, daß er selbst nicht glaubte, was er sagte, also hieß ich ihn, sie herbeizurufen, mir inzwischen aber den Fisch zu bringen, worauf er murrend davonging. Ich setzte mich höher auf. Das Terminus Est (das ich zum Platznehmen von der Schulter hatte nehmen müssen) steckte aufrecht zwischen meinen Knien. Es waren noch fünf Männer mit mir in der Stube, aber keiner davon wollte meinem Blick begegnen, und zwei brachen bald auf.
    Der alte Mann kehrte mit einem kleinen Fisch wieder, der auf einer Scheibe Schrotbrot geendet hatte. »Iß das und geh!« erklärte er.
    Er blieb und sah mir zu, wie ich mein Nachtmahl verspeiste. Als ich fertig war, fragte ich, wo ich schlafen könne.
    »Haben keine Zimmer. Sagte ich schon.«
    Wenn keine halbe Kette entfernt ein Palast mit offenen Türen gestanden hätte, so hätte ich mich wohl nicht dazu überwinden können, das Gasthaus zu verlassen und hinzugehen. Ich erwiderte: »Also schlafe ich auf diesem Stuhl. Du bekommst heute wahrscheinlich sowieso keine Kundschaft mehr.«
    »Warte!« sagte er und verschwand. Ich hörte ihn mit einer Frau in einem anderen Zimmer sprechen.
    Als ich die Augen aufschlug, rüttelte er mich an der Schulter. »Willst du zu dritt in einem Bett schlafen?«
    »Mit wem?«
    »Zwei Optimaten, schwöre ich dir. Sehr netten Männern, die zusammen reisen.«
    Die Frau in der Küche rief etwas, das ich nicht verstand.
    »Hast du gehört?« fuhr der alte Mann fort. »Einer davon ist gar nicht da. Um diese Nachtzeit wird er wohl überhaupt nicht mehr kommen. So seid ihr nur zu zweit.«
    »Wenn die beiden ein Zimmer gemietet haben ...«
    »Sie werden nichts dagegen haben, verspreche ich dir. Offengestanden, Henker, sind sie im Rückstand. Drei Nächte hier, und nur die erste bezahlt.«
    Ich sollte also eine unfreiwillige Zwangsräumung betreiben. Das störte mich nicht sonderlich, und eigentlich verband ich Erwartungen damit – wenn der hier Nächtigende abreiste, bekäme ich das Zimmer für mich. Ich kämpfte mich auf die Beine und folgte dem Greis über eine gewundene Treppe.
    Das Zimmer, das wir betraten, war nicht abgeschlossen, aber finster wie ein Grab. Ich hörte schweres Atmen. »Gevatter!« brüllte der Greis, der vergaß, daß er seinen Mieter einen Optimaten genannt hatte. »Wie heißt du gleich? Baldy? Baldanders? Ich bringe dir Gesellschaft. Wenn du nicht zahlst, mußt du einen Zimmerherrn aufnehmen.«
    Es kam keine Antwort.
    »Hier, Henkersmeister«, wandte er sich an mich, »ich mach' dir Licht.« Er pustete auf ein Stück Zunderholz, bis es genügend hell war, um daran einen Kerzenstummel zu entzünden.
    Das Zimmer war klein und enthielt als Einrichtung nur das Bett. Darin lag, auf der Seite (wie mir schien) mit dem Rücken zu uns und angezogenen Beinen schlafend, der größte Mann, den ich je gesehen hatte – ein Mann, den man gut

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