Der Schatten des Folterers
meine den Ort, wo euer Turm steht.«
»Die Zitadelle.«
»Ja, die Alte Zitadelle. Liegt östlich vom Fluß, wenn ich mich recht besinne, und am nördlichen Rand des Algedonischen Viertels. Ich wurde einmal hingefahren, um den Donjon zu sehen, als ich noch Kadett war. Wie oft warst du schon in der Stadt?«
Ich dachte an unsere Badeausflüge und erwiderte. »Oft.«
»In diesen Gewändern?« Ich schüttelte den Kopf.
»Wenn du sie schon trägst, zieh wenigstens die Kapuze zurück. Ich kann nur deine Nasenspitze sehen.« Der Kürassier trat an eines der zur Brücke zeigenden Fenster. »Wieviele Menschen gibt es, glaubst du, in Nessus?«
»Keine Ahnung.«
»Ich auch nicht, Folterer. Niemand hat eine Ahnung davon. Alle Zählungen sind ebenso fehlgeschlagen wie der Versuch einer systematischen Besteuerung. Die Stadt wächst und wandelt sich über Nacht wie eine Kreideinschrift an einer Wand. In den Straßen werden Häuser gebaut von aufgeweckten Leuten, welche in der Dunkelheit das Kopfsteinpflaster aufreißen und den Boden als Eigentum geltend machen – hast du das gewußt? Der Beglückte Talarican, dessen Verrücktheit sich als verzehrende Anteilnahme an den niedrigsten Aspekten des menschlichen Daseins ausdrückte, behauptete, die Zahl derer, die von den Abfällen anderer leben, betrage zweimal tausend Gros; daß es zehntausend bettelnde Straßenkünstler gebe, welche zur Hälfte Frauen seien. Wenn mit jedem Atemzug einer der Armen von der Brüstung dieser Brücke spränge, würden wir das ewig erleben, denn die Stadt bringe Menschen schneller hervor und um, als wir Luft holen könnten. Angesichts solcher Massen gibt es keine Alternative zum Frieden. Störungen können nicht geduldet werden, weil Störungen nicht auszumerzen sind. Kannst du mir folgen?«
»Die Alternative wäre Ordnung. Ja doch, bis diese erreicht ist, kann ich's verstehen.«
Der Kürassier atmete auf und kehrte sich mir zu. »Gut, daß du wenigstens das verstehst. Es wird also erforderlich sein, daß du dich konventioneller kleidest.«
»Ich kann nicht zur Zitadelle zurückkehren.«
»Dann laß dich heute nacht nicht mehr sehen und kaufe dir in der Früh was. Hast du Geld?«
»Ein wenig, ja.«
»Prima. Kauf was! Oder stiehl was oder ziehe den nächsten Unglücklichen aus, den du einen Kopf kürzer machst. Ich ließe dich von einem meiner Gefährten in ein Gasthaus führen, aber dann würde man nur noch mehr starren und munkeln. Es hat auf der Brücke Schwierigkeiten gegeben, und da draußen machen schon zu viele Schauermärchen die Runde. Der Wind legt sich bald und der Nebel steigt auf – das macht alles noch schlimmer. Wohin ziehst du?«
»Ich bin nach Thrax bestellt.«
Der Peltast, der vorher das Wort geführt hatte, sagte: »Glaubst du ihm, Kürassier? Er hat keinen Beweis erbracht, daß er ist, was er behauptet.«
Der Kürassier blickte wieder zum Fenster hinaus, und nun bemerkte auch ich die ersten ockerfarbenen Nebelfetzen. »Wenn du deinen Kopf nicht gebrauchen kannst, gebrauche deine Nase«, versetzte er. »Was für Gerüche kamen mit ihm herein?«
Der Peltast lächelte unsicher.
»Rostendes Eisen, kalter Schweiß, fauliges Blut. Ein Hochstapler röche nach neuem Tuch oder Lumpen aus dem Müll. Wenn du nicht bald wach wirst, Petronax, heißt's ab nach Norden gegen die Ascier.«
Der Peltast sagte: »Aber Kürassier ...«, wobei er mir einen solch haßerfüllten Blick zuwarf, daß ich befürchtete, er könnte mir etwas antun wollen, sobald ich das Erkertürmchen verlassen hätte.
»Zeig diesem Burschen, daß du wirklich von der Zunft der Folterer bist!«
Der Peltast war entspannt, so daß es mir nicht sonderlich schwer fiel. Ich stieß mit dem rechten Arm seinen Schild zur Seite, stellte meinen linken Fuß auf seinen rechten, um ihn festzuhalten, und drückte währenddessen auf jenen Nerv im Nacken, der Krämpfe auslöst.
Baldanders
Die Stadt war am Westende der Brücke ganz anders als dort, von wo ich gekommen war. Zunächst brannten in allen Ecken Fackeln, und es herrschte ein beinahe ebenso emsiger Verkehr von Kutschen und Karren wie auf der Brücke selbst. Bevor ich aus dem Erkertürmchen weggegangen war, hatte ich mich beim Kürassier danach erkundigt, wo ich den Rest der Nacht verbringen könnte; nun, da ich wieder die Müdigkeit spürte, die nur kurz von mir gewichen war, schleppte ich mich, nach dem Gasthausschild ausschauend, weiter.
Nach einer Weile schien die Dunkelheit mit jedem Schritt tiefer zu werden –
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