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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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als Riesen hätte bezeichnen dürfen.
    »Willst du nicht aufwachen, Gevatter Baldanders, und sehen, wer dein Logiergast ist?«
    Da ich zu Bett gehen wollte, forderte ich den Greis zum Gehen auf. Er machte Einwände, doch schob ich ihn aus dem Zimmer hinaus und setzte mich, sobald er weg war, auf die freie Bettkante, wo ich mich meiner Stiefel und Socken entledigte. Im schwachen Kerzenschein konnte ich mich vergewissern, daß ich mir mehrere Blasen geholt hatte. Ich schlüpfte aus meinem Mantel und breitete ihn über die fadenscheinige Bettdecke. Dann überlegte ich kurz, ob ich auch Gürtel und Hosen ablegen oder darin schlafen sollte; vorsichtshalber und auch weil ich so müde war, entschloß ich mich zu letzterem; auch der Riese schien komplett angezogen. Unaussprechlich erschöpft und erleichtert blies ich die Kerze aus und legte mich nieder zur ersten Nachtruhe außerhalb des Machatin-Turms, derer ich mir bewußt war.
    »Nie.« Die Stimme war so dumpf und volltönend (fast wie die tiefsten Töne einer Orgel), daß ich zunächst unsicher war, ob ich das Wort richtig verstanden hatte oder ob es überhaupt ein Wort gewesen war.
    »Was hast du gesagt?« murmelte ich.
    »Baldanders.«
    »Ich weiß das vom Wirt. Ich heiße Severian.« Ich lag auf dem Rücken und Terminus Est (das ich zur Sicherheit mit ins Bett genommen hatte) zwischen uns. Im Dunkeln konnte ich nicht erkennen, ob sich der Gefährte mir zugekehrt hatte, obwohl ich gewiß jede Bewegung dieses gewaltigen Leibes gespürt hätte.
    »Du – köpfst?«
    »Du hast uns also gehört, als wir gekommen sind. Dachte, du würdest schlafen.« Meine Lippen formten sich schon zu der Erwiderung, daß ich kein Henker, sondern ein Geselle der Zunft der Folterer sei; dann besann ich mich jedoch auf meine schmachvolle Entlassung und meine Bestellung nach Thrax. »Ja, ich bin Scharfrichter, aber du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich tue nur, wofür ich bezahlt werde.«
    »Also bis morgen.«
    »Ja, morgen haben wir viel Zeit zum Kennenlernen und Reden.«
    Und dann träumte ich, obzwar es möglich war, daß Baldanders Worte auch nur geträumt waren. Jedoch glaube ich das nicht, und falls doch, hat es sich um einen anderen Traum gehandelt.
    Ich saß rittlings auf einem großen Tier mit ledernen Schwingen unter einem tiefhängenden Himmel. Auf halber Höhe zwischen einer Wolkenbank und einem düsteren Landstrich glitten wir durch die Luft. Der Segler mit seinen klauenbewehrten, langen Fittichen schien kaum einen Flügelschlag zu tun. Die untergehende Sonne stand vor uns, und offenbar bewegten wir uns mit der gleichen Geschwindigkeit wie die Urth, denn ihr Horizont weitete sich nicht, obwohl wir immer weiter flogen. Schließlich bemerkte ich eine Veränderung in der Landschaft, die ich zunächst für eine Wüste hielt. Weit und breit entdeckte ich weder Stadt noch Gehöft oder Wald oder Feld; was sich mir darbot, war eine flache Öde in dunklem Purpur ohne markante Besonderheiten, fast statisch. Der Flieger mit den ledernen Schwingen beobachtete sie ebenfalls oder witterte vielleicht einen Geruch in der Luft. Ich spürte, wie sich unter mir eiserne Muskel anspannten, und es folgten drei Flügelschläge hintereinander.
    In der purpurnen Wüste zeigten sich weiße Flecken. Nach einer Weile wurde ich gewahr, daß die scheinbare Stille einer trügerischen Gleichförmigkeit entsprang: überall war alles gleich, aber überall in Bewegung – die See – der Weltfluß Uroboros, der die Urth wiegte.
    Dann blickte ich zum ersten Mal hinter mich, wo die Nacht die bewohnten Landstriche verschluckte.
    Als diese verschwunden und überall unter uns nur noch die wogenden Wassermassen waren, wandte das Tier den Kopf zu mir um. Sein Schnabel war der Schnabel eines Ibis, sein Gesicht das Gesicht eines runzligen Weibes, und auf seinem Haupt ruhte eine knöcherne Mitra. Wir betrachteten einander flüchtig, und ich schien seine Gedanken zu erraten: Du träumst; aber würdest du von deinem Wachsein erwachen, wäre ich da.
    Seine Bewegung änderte sich wie die eines halsenden Loggers. Eine Schwinge senkte sich, die andere stieg, bis sie zum Himmel zeigte, und ich rutschte über die schuppige Haut und stürzte in die See.
    Die Wucht des Aufpralls weckte mich. Ich zuckte am ganzen Leibe und hörte den Riesen im Schlaf brummen. Ganz ähnlich murmelte auch ich, tastete nach meinem Schwert, ob es noch an meiner Seite lag, und schlief wieder ein.
    Das Wasser schlug über mir zusammen, doch ich

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