Der Schatten des Folterers
ertrank nicht. Ich glaubte, Wasser atmen zu können, atmete aber nicht. Alles war so klar, daß ich glaubte, durch eine Leere, die lichtdurchlässiger als Luft war, gefallen zu sein.
Weit entfernt zeichneten sich drohend gewaltige Formen ab – Gebilde von der hundertfachen Größe eines Menschen. Manche schienen Schiffe zu sein, andere Wolken; eins war ein lebendiger Kopf ohne Körper; ein anderes hatte hundert Köpfe. Ein blauer Dunst umhüllte sie, und ich sah unter mir eine Sandlandschaft, welche die Strömung geformt hatte. Ein Palast stand dort, der größer als unsere Zitadelle, jedoch verfallen war. Seine Hallen waren unbedacht wie seine Gärten; durch diese wandelten hühnenhafte Gestalten, bleich wie Aussätzige.
Ich fiel näher, und sie wandten mir ihre Gesichter zu; Gesichter, wie ich sie einst unter dem Gyoll gesehen hatte; es waren nackte Frauen mit grünem Meerschaumhaar und Korallenaugen. Lachend beobachteten sie mein Fallen, und ihr Gelächter sprudelte zu mir herauf. Ihre weißen, spitzen Zähne waren fingerlang.
Ich fiel näher. Sie griffen mit den Händen nach mir und streichelten mich, wie eine Mutter ihr Kind kost. Die Palastgärten bargen Schwämme und Seeanemonen und zahllose andere Prunkstücke, für die ich keinen Namen hatte. Die großen Frauen umringten mich, und ich stand wie eine winzige Puppe in ihrer Mitte. »Wer seid ihr?« fragte ich.
»Was macht ihr hier?«
»Wir sind die Bräute von Abaia. Die Lieblinge und Gespielinnen, die Herzchen und Schoßkinder von Abaia. Das Land kann uns nicht tragen. Unsere Brüste sind Sturmböcke, unsere Hinterbacken brächen einem Stier den Rücken. Hier ist unsere Weide, hier schweben und wachsen wir, bis wir groß und genug sind, uns mit Agaia zu vermählen, der eines Tages die Kontinente verschlingen wird.«
»Und wer bin ich?«
Draufhin lachten sie alle, und ihr Gelächter klang wie Wellen auf einem gläsernen Strand. »Wir zeigen es dir«, sagten sie. »Wir zeigen es dir!« Eine nahm mich bei jeder Hand, wie Schwestern ihre Nichte führen, hob mich empor und schwamm mit mir durch den Garten. Ihre schwimmhäutigen Finger waren so lang wie mein Oberarm.
Sie hielten inne und trieben wie sinkende Galeonen abwärts, bis unsere Füße den Boden berührten. Vor uns standen eine niedrige Mauer und darauf ein kleines Theater mit Vorhang, wie eine Puppenbühne für Kinder.
Durch das von uns aufgerührte Wasser schien sich der taschentuchgroße Vorhang in Bewegung zu setzen. Er kräuselte sich, wehte hin und her und schob sich langsam, wie von unsichtbarer Hand gezogen, zurück. Sogleich erschien dort ein hölzernes Männchen. Zweige, die noch Rinde und Knospen trugen, bildeten seine Gliedmaßen. Sein Leib bestand aus einem Ast, der eine viertel Spanne lang und dick wie mein Daumen war, und sein Kopf aus einem Knorren, dessen Knoten die Augen und den Mund darstellten. Es trug einen Knüttel (den er drohend in unsere Richtung schwang) und bewegte sich, als wäre es lebendig.
Als das Holzmännchen ein paar Sprünge vollführt und mit seiner Waffe auf die Bühne eingeschlagen hatte, um seine Wildheit zu zeigen, erschien ein schwertbewehrter Knabe. Diese Marionette war so fein gearbeitet, wie das Männchen plump war – sie sah aus wie ein echtes, auf die Größe einer Maus geschrumpftes Kind.
Nachdem sich beide vor uns verneigt hatten, lieferten sich die winzigen Figuren einen Kampf. Das Holzmännchen hüpfte in gewaltigen Sätzen und füllte mit seinen Keulenhieben offenbar die ganze Bühne aus; das Knäblein tanzte wie ein Stäubchen in einem Sonnenstrahl, um ihnen auszuweichen, und stach mit seiner nadelgroßen Klinge auf das Holzmännchen ein.
Schließlich brach das Holzmännchen zusammen. Der Knabe schritt zu ihm, als wollte er ihm den Fuß auf die Brust setzen; aber ehe er dazu imstande war, schwebte das Holzmännchen von der Bühne, erschlaffte und stieg immer höher, bis es verschwunden war – zurück blieben der Knabe, die Keule und das Schwert – beide zerbrochen. Mir war, als hörte ich (gewiß waren das in Wirklichkeit kreischende Wagenräder auf der Straße draußen) eine Fanfare von Spielzeugtrompeten.
Ich erwachte, weil ein Dritter das Zimmer betrat. Es war ein kleiner, munterer Mann mit feuerrotem Haar und feiner, sogar ein bißchen geckenhafter Kleidung. Als er feststellte, daß ich nicht schlief, stieß er die Fensterläden auf, so daß rotes Sonnenlicht hereinströmte.
»Mein Partner«, sagte er, »hat immer einen gesunden
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