Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
dumpfen Ahnung getrieben, daß ich mein Schwert finden müsse, setzte ich mich in Bewegung, wobei ich sogleich fast über die zertrümmerte Kutsche stolperte. Ein Zugtier lag nicht weit davon; ich weiß noch, daß mir der Gedanken gekommen ist, es müsse sich den Hals gebrochen haben. Jemand rief »Folterer!« und ich sah mich um und erblickte Agia aufrecht stehend, wenn auch ein wenig schwankend. Ich fragte, ob ihr etwas fehle.
    »Ich lebe noch, aber wir müssen sofort von hier weg! Ist dieses Tier tot?«
    Ich nickte.
    »Ich hätte darauf reiten können. Nun mußt du mich tragen, wenn du kannst. Mein rechtes Bein wird mein Gewicht nicht aushalten. Sie torkelte beim Sprechen, und ich mußte zu ihr eilen und sie auffangen, um sie vor dem Fallen zu bewahren. »Wir müssen fort«, sagte sie.
    »Schau dich um ... Kannst du eine Tür sehen? Schnell!« Ich entdeckte keine. »Warum so eilig?«
    »Gebrauche die Nase, wenn du die Augen nicht benutzen kannst. Der Boden.«
    Ich schnupperte. Die Luft roch nicht mehr nach Stroh, sondern nach brennendem Stroh; fast gleichzeitig sah ich Flammen, die das Dunkel erhellten, aber noch so niedrig brannten, daß sie vor wenigen Augenblicken noch Funken hatten sein müssen. Ich wollte laufen, brachte aber nicht mehr als ein müdes Gehen zustande. »Wo sind wir?«
    »In der Kathedrale der Pelerinen – zuweilen auch Kathedrale der Klaue genannt. Die Pelerinen sind ein Priesterinnen-Bund, der den Kontinent bereist. Nie ...«
    Agia verstummte, weil wir uns einer Gruppe in Scharlachgewändern näherten. Vielleicht näherte sich dieser Haufen auch uns, denn mir schien, er war unversehens in mittlerer Entfernung aufgetaucht. Die Männer hatten kahlgeschorene Köpfe und trugen blitzende Säbel, die wie der Halbmond gekrümmt waren und golden schimmerten; eine Frau mit dem hohen Wuchs einer Beglückten schwenkte einen in seiner Scheide steckenden Zweihänder: mein Terminus Est. Sie war mit einer Kapuze und einem engen Umhang bekleidet, an dem lange Quasten baumelten. Agia begann: »Unsere Tiere sind durchgegangen, Heilige Domicella ...«
    »Das ist ohne Belang«, antwortete die Frau, die mein Schwert hielt. Sie war von großer Schönheit, aber es war nicht die Schönheit von Frauen, die ihre Lust stillen. »Das gehört dem Mann, der dich trägt. Sag ihm, er soll dich absetzen und es nehmen. Du kannst gehen.«
    »Ein bißchen. Tu, was sie sagt, Folterer!«
    »Weißt du seinen Namen nicht?«
    »Er hat ihn mir gesagt, aber ich hab' ihn vergessen.«
    Ich wiederholte: »Severian«, und stützte sie mit einer Hand, während ich mit der andern mein Terminus Est entgegennahm.«
    »Gebrauche es, um Streit zu beenden!« sagte die scharlachrot Gekleidete. »Nicht um Streit zu beginnen!«
    »Der Strohboden dieses großen Zeltes brennt, Chatelaine. Wißt Ihr das?«
    »Es wird gelöscht. Die Schwestern und Diener treten gerade die letzte Glut aus.« Sie hielt inne, und ihr Blick huschte von Agia zu mir und wieder zu Agia. »In den Trümmern des Hochaltars, den euer Fuhrwerk zerstört hat, haben wir nur ein Ding gefunden, das offenbar euch gehört und wohl von Wert für euch ist – dieses Schwert. Wir haben es zurückgegeben. Würdet ihr nun ebenfalls zurückgeben, was ihr an für uns Wertvollem vielleicht gefunden habt?«
    Mir fielen die Amethyste ein. »Ich habe nichts Wertvolles gefunden, Chatelaine.« Agia schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Ich sah mit Edelsteinen besetzte Holzsplitter, aber ich ließ sie liegen, wo sie waren.« Die Männer legten, den besten Griff ausprobierend, die Hand ans Heft ihrer Waffen und suchten einen sicheren Stand, aber die hochgewachsene Frau verharrte regungslos, während sie zunächst mich, dann Agia und schließlich wieder mich musterte. »Komm her, Severian!«
    Ich näherte mich die drei oder vier Schritte, die uns getrennt hatten. Die Versuchung, zur Verteidigung gegen die Klingen der Männer Terminus Est zu ziehen, war groß, aber ich widerstand ihr. Die Herrin nahm mich an beiden Handgelenken und sah mir in die Augen. Die ihrigen waren ruhig und wirkten in dem seltsamen Licht hart wie Berylle. »Er trägt keine Schuld in sich«, verkündete sie.
    Einer der Männer murmelte: »Ihr irrt, Domicella.«
    »Keine Schuld, sage ich. Tritt zurück, Severian, und komme die Frau vor!«
    Ich tat, wie sie geheißen, und Agia humpelte vor, einen langen Schritt Abstand haltend. Da sie nicht näherkommen wollte, trat die hochgewachsene Frau zu ihr hin und nahm wie bei mir ihre

Weitere Kostenlose Bücher