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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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mir, als könnte ich diesen Raum nicht verlassen?«
    Sie blickte mich von der Seite an. »Dieses Gefühl bekommt in diesen Gärten jeder früher oder später, wenn auch normalerweise nicht so schnell. Es wäre besser für dich, wenn wir gleich wieder hinausgingen.« Sie sagte noch etwas, das ich nicht verstehen konnte. Weit entfernt vermeinte ich die Brandung am Rande der Welt rollen zu hören.
    »Warte ...«, sagte ich. Aber Agia zog mich wieder in den Gang hinaus. Unsere Füße trugen soviel Sand fort, wie in eine Kinderhand geht.
    »Wir haben wirklich nicht mehr viel Zeit«, erklärte mir Agia. »Ich zeig' dir nun den Lustgarten, dann pflücken wir deine Averne und brechen auf.«
    »Es kann höchstens später Vormittag sein.«
    »Es ist Nachmittag. Wir haben mehr als eine Wache nur im Sandgarten verbracht.«
    »Du lügst, jetzt weiß ich's!«
    Ein Anflug von Zorn huschte über ihr Gesicht. Dann erfüllte ihre Miene ein falsches Pathos philosophischer Ironie, das Sekret ihres verletzten Eigendünkels. Ich war viel stärker als sie und – wenn auch arm – reicher; sie redete sich nun ein (ich konnte beinahe hören, wie sie sich das ins Ohr flüsterte), daß sie mich beherrschen könnte, indem sie solche Kränkungen hinnähme.
    »Severian, du brachtest Einwand um Einwand vor, so daß ich dich schließlich mit Gewalt herausziehen mußte. Die Gärten haben eine große Anziehungskraft auf Leute wie dich – auf bestimmte beeinflußbare Leute. Angeblich wünscht der Autarch, daß die Leute in den Sälen verweilen, um die Wirklichkeitstreue der Szenerie hervorzuheben, also hat sein Erzmagier, Vater Inire, sie mit einem Zauber belegt. Aber da dich dieser so in seinen Bann zog, wird dich wahrscheinlich kein anderer mehr so heftig beeinflussen.«
    »Ich hatte das Gefühl, dorthin zu gehören«, antwortete ich. »Daß ich jemandem begegnen sollte ... Und daß eine bestimmte Frau dort dicht bei mir, aber unsichtbar, meiner harrte.«
    Wir passierten eine weitere Tür, auf der geschrieben stand:
    DSCHUNGELGARTEN
    Da Agia nichts erwiderte, sagte ich: »Du behauptest, die übrigen würden mich nicht beeinflussen, also gehen wir in diesen.«
    »Wenn wir damit unsere Zeit verschwenden, werden wir überhaupt nicht mehr zum Lustgarten gelangen.«
    »Nur für einen Augenblick.« Weil sie so entschlossen war, mich in den Garten ihrer Wahl zu führen, ohne mir einen anderen zu zeigen, hatte ich Angst davor bekommen, was ich dort finden oder was mich dort überkommen mochte.
    Die schwere Tür des Dschungelgartens tat sich auf, und dampfende Luft strömte uns entgegen. Ein düsterer Raum in grünlichem Licht erwartete uns. Der Eingang war halb mit Lianen verhangen, und ein großer, verfaulter Baum lag ein paar Schritte entfernt quer über dem Weg. Der Stamm trug noch das Täfelchen mit der Aufschrift: Caesalpinia sappan.
    »Der echte Dschungel im Norden stirbt mit der erkaltenden Sonne«, sagte Agia. »Ein Mann, den ich kenne, behauptet, er sterbe schon seit so vielen Jahrhunderten. Hier haben wir den alten Dschungel in seiner ursprünglichen Form, als die Sonne noch jung gewesen ist. Komm rein! Du wolltest ihn sehen.«
    Ich trat hinein. Hinter uns fiel die Tür ins Schloß und verschwand.

Vater Inires Spiegel
    Wie Agia gesagt hat, sind die echten Urwälder im hohen Norden krank. Ich hatte sie noch nicht gesehen, doch der Dschungelgarten gab mir das Gefühl, ich hätte. Sogar jetzt, da ich an meinem Schreibpult im Haus Absolut sitze, weckt ein ferner Laut in meinen Ohren die Erinnerung an das Gekrächze des rotbrüstigen, krummschnäbeligen Papageis, der von Baum zu Baum geflattert ist und uns mit weißgeränderten Augen mißbilligend gemustert hat – obwohl das zweifelsohne davon herrührt, daß ich im Geiste schon an diesen gespenstischen Ort zurückgekehrt bin. Durch das Gekrächze drang ein neuer Laut – ein neuer Ruf – aus einer roten Welt, die noch kein Gedanke erobert hatte.
    »Was ist das?« Ich tippte Agia an den Arm.
    »Ein Smilodon. Aber er ist weit weg und will nur das Hochwild aufschrecken, damit es ihm in die Fänge läuft. Er würde vor dir und deinem Schwert viel schneller fliehen, als du vor ihm fliehen könntest.« Sie hatte sich an einem Ast das Gewand zerrissen, so daß eine Brust hervorschaute. Nach diesem Mißgeschick hatte sie keine gute Laune mehr. »Wohin führt der Weg? Und wie kann der Säbelzahntiger so weit entfernt sein, wenn das doch nur ein Saal des Bauwerks ist, das wir von der Adamnischen Treppe aus

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