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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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reflektiert die Abbilder in seinem Gegenstück.
    Natürlich ist das verlockend, wenn man ein Mädchen ist und sich für einigermaßen schön dünkt. Domnina und ich spielten dort eines Abends; wir drehten und wendeten uns hin und her, in neuen Blusen posierend. Wir hatten zwei große Armleuchter verrückt, so daß einer links vom ersten, der andere Kandelaber links vom zweiten Spiegel stand – also einander gegenüber, wenn du weißt, was ich meine.
    Wir waren so mit uns beschäftigt, daß wir Vater Inire erst bemerkten, als er nur noch einen Schritt entfernt war. Normalerweise ergriffen wir immer das Hasenpanier und verkrochen uns, wenn wir ihn kommen sahen, obwohl er kaum größer als wir waren. Er trug schillernde Roben, die zu Grau verblaßten, wenn ich sie ansah, als wären sie mit Nebel gefärbt. ›Hütet euch vor diesem Gaffen, Kinder!‹ mahnte er. ›Es lauert in versilbertem Glas ein Kobold, der in die Augen derer kriecht, die hineinblicken.‹
    Ich wußte, was er meinte, und errötete. Domnina aber sagte: ›Ich habe ihn wohl gesehen. Hat er die Gestalt einer glänzenden Träne?‹
    Vater Inire antwortete, ohne zu zögern oder auch nur zu blinzeln – dennoch bemerkte ich seine Verblüffung. Er entgegnete: ›Nein, das ist etwas anderes, Dulcinea. Kannst du ihn deutlich sehen? Nein? Dann komm morgen kurz nach dem Mittagsoffizium in meinen Audienzsaal, und ich werde ihn dir zeigen.‹
    Wir hatten Angst, als er fortging. Domnina beteuerte mit hundert Eiden, daß sie ihn nicht aufsuchen würde. Ich begrüßte ihre Entschlossenheit und versuchte, sie darin zu bestärken. Genauer gesagt richteten wir es so ein, daß sie die Nacht und den nächsten Tag bei mir blieb.
    Es half nichts. Kurz vor der festgelegten Zeit kam ein Diener in Livree, den wir noch nie gesehen hatten, um die arme Domnina abzuholen.
    Ein paar Tage vorher hatte ich Figuren aus Papier geschenkt bekommen. Es waren Soubretten, Kolombinen, Primaballerinen, Harlekine, Figurantinnen und so weiter – das Übliche. Ich erinnere mich, den ganzen Nachmittag auf Domnina gewartet zu haben: auf der Fensterbank spielte ich mit diesen Menschlein, bemalte ihre Kostüme mit Wachskreiden, stellte sie in verschiedenen Posen zusammen und dachte mir aus, was wir alles damit spielen könnten nach ihrer Rückkehr.
    Schließlich rief mich mein Kindermädchen zum Abendessen. Inzwischen war ich der Überzeugung, Vater Inire habe Domnina umgebracht oder zu ihrer Mutter heimgeschickt mit der Auflage, sie dürfe uns nie wieder besuchen. Als ich gerade mit der Suppe fertig wurde, klopfte es. Ich hörte Mutters Zofe zur Tür gehen, dann platzte Domnina herein. Ich werde ihr Gesicht nie vergessen – es ist weiß wie ein Puppengesicht gewesen. Sie weinte, und meine Amme tröstete sie. Schließlich brachten wir aus ihr heraus, was geschehen war.
    Der Mann, der sie geholt hatte, hatte sie durch Hallen geführt, die ihr unbekannt waren. Das allein schon, du verstehst, Severian, hatte ihr Bange gemacht. Beide glaubten wir, mit jedem Winkel dieses Flügels vom Haus Absolut vertraut zu sein. Zuletzt hatte er sie in ein Gemach geleitet, welches der Audienzsaal sein mußte. Sie sagte, es sei ein großes Zimmer mit dicken, dunkelroten Vorhängen gewesen, dessen Einrichtung fast nur aus Vasen, übermannsgroß und breiter als ihre ausgespannten Arme, bestanden habe.
    In der Mitte befand sich, was sie zunächst für ein Zimmer im Zimmer hielt. Die Wände bildeten ein Achteck und waren mit labyrinthischen Mustern bemalt. Darüber, vom Eingang des Audienzsaales aus, wo sie stand, gerade noch sichtbar, brannte die hellste Lampe, die ihr je vor Augen gekommen war. Sie habe bläulichweiß geleuchtet, sagte sie, und so grell, daß ein Adler den Blick hätte abwenden müssen.
    Sie hörte, wie der Riegel zuschnappte, als die Tür hinter ihr geschlossen wurde. Einen zweiten Ausgang konnte sie nirgendwo sehen. Also lief sie zu den Vorhängen, weil sie dahinter eine andere Tür zu finden hoffte, aber sobald sie einen zur Seite raffte, tat sich eine der acht labyrinthisch verzierten Wände auf, und Vater Inire trat hervor. Hinter ihm bemerkte sie ein – wie sie sagte – bodenloses Loch, das von Licht erfüllt war.
    ›Da bist du ja‹, begrüßte er sie. ›Gerade zur rechten Zeit. Kind, der Fisch ist fast gefangen. Nun kannst du sehen, wie man den Haken auslegt, und lernst, wie man die goldenen Schuppen mit dem Köscher umgarnt.‹ Er nahm sie beim Arm und geleitete sie in das achteckige

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