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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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finstere Leere vorkommen mußte) hervorschaute. Während ich ihn zurechtzog und die Spange wieder schloß, sagte ich: »Wie alle religiösen Streitfragen, so wird auch diese bei weiterer Erörterung immer bedeutungsloser. Angenommen der Schlichter ist vor Äonen in unserer Mitte gewandelt und nun tot, für wen außer für Historiker und Fanatiker wäre das von Belang? Ich achte die Legende um ihn als Teil der geheiligten Vergangenheit, aber es scheint mir, daß heute allein die Legende eine Rolle spielt, und nicht der Staub des Schlichters.«
    Agia rieb sich die Hände, als wollte sie sie im Sonnenschein wärmen.
    »Angenommen – an dieser Ecke biegen wir ab, Severian; schau, dann siehst du den oberen Treppenabsatz, wo die Statuen der Eponyme stehen – angenommen also, er hat gelebt, so ist er per Definition Herr der Macht gewesen, was die Erhabenheit über die Realität und die Aufhebung der Zeit einschließt. Hab' ich nicht recht?«
    Ich nickte.
    »Also hindert ihn nichts daran, von einem – sagen wir dreißigtausend Jahren zurückliegenden Zeitpunkt in die sogenannte Gegenwart zu kommen. Ob tot oder lebendig, falls er je existiert hat, könnte er an der nächsten Straßenecke oder am nächsten Wochenanfang auftauchen.«
    Wir erreichten die Treppe. Die steinernen Stufen waren so weiß wie Salz und manchmal so flach, daß es einige Schritte erforderte, um zur nächsttieferen zu gelangen, ein andermal fast so steil wie eine Leiter. Zuckerbäcker, Affenhändler und dergleichen hatten hie und da ihre Stände aufgebaut. Aus welchem Grund auch immer, es war sehr reizvoll, beim Hinabsteigen dieser Treppe mit Agia über diese Geheimnisse zu reden. »Und all das«, sagte ich, »nur weil diese Frauen behaupten, einen seiner glitzernden Fingernägel zu besitzen. Ich vermute, das Ding vollbringt Wunderheilungen?«
    »Gelegentlich, wie sie sagen. Ebenso tilgt es Unrecht, erweckt die Toten, läßt neue Rassen aus dem Boden auferstehen, läutert die Begierde und so weiter. All diese Taten hat er offenbar selbst gewirkt.«
    »Jetzt lachst du über mich.«
    »Nein, ich lache über die Sonne – du weißt, was sie dem Gesicht einer Frau antun soll.«
    »Sie macht es braun.«
    »Macht es häßlich! Erst einmal trocknet sie die Haut aus und bewirkt Falten und so weiter. Dann hebt sie auch noch jeden kleinen Makel hervor. Urvasi liebte Pururavas, bis er sie einmal bei hellem Lichte sah. Jedenfalls spürte ich sie auf meinem Gesicht und dachte: ›Ich mache mir nichts aus dir. Ich bin noch zu jung, mir wegen dir Sorgen machen zu müssen, und nächstes Jahr besorge ich mir einen weiten Hut aus unserem Laden.‹«
    Agias Gesicht war im klaren Sonnenlicht längst nicht vollkommen, aber sie hatte davor nichts zu fürchten. Mein Verlangen wurde schließlich genauso üppig von ihren kleinen Fehlern genährt. Sie hatte den hoffnungsvollen, hoffnungslosen Mut der Armen, der vielleicht anziehendsten aller menschlichen Eigenschaften, und ich ergötzte mich an den Schwächen, die sie mir wirklicher machten.
    »Jedenfalls«, fuhr sie fort, mir die Hand drückend, »habe ich offengestanden nie begriffen, warum Leute wie die Pelerinen stets glauben, die Begierde des gemeinen Mannes müsse geläutert werden. Meiner Erfahrung nach beherrscht er sie von sich aus recht gut, und das obendrein fast sieben Tage in der Woche. Was die meisten von uns brauchen, ist jemand, mit dem man sie ausleben kann.«
    »Also liegt dir daran, daß ich dich liebe«, bemerkte ich eher zum Spaß.
    »Jeder Frau liegt daran, daß sie geliebt wird – und je mehr Männer, desto besser! Aber ich habe nicht vor, deine Liebe zu erwidern, falls du das meinst. Es wäre so einfach heute bei unserem Spaziergang durch die Stadt. Aber falls du heut' abend getötet würdest, ging's mir zwei Wochen lang erbärmlich.«
    »Mir auch«, versicherte ich.
    »Nein, dir nicht. Dir macht's nichts aus, weder das noch sonst was, weder jetzt noch später. Totsein tut nicht weh, das solltest besonders du wissen.«
    »Fast möchte ich glauben, die ganze Sache ist ein Trick von dir oder deinem Bruder. Du bist draußen gewesen, als der Septentrion in den Laden gekommen ist – hast du ihn gegen mich aufgebracht? Ist er dein Liebhaber?«
    Darüber lachte Agia, daß ihre Zähne in der Sonne glänzten. »Schau mich an! Ich trage ein brokatenes Gewand, aber du hast gesehen, was darunter ist. Ich gehe barfuß. Siehst du Ringe oder Ohrringe? Eine silberne Lamia um meinen Hals? Stecken an meinen Armen

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