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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Goldreife? Wenn nicht, kannst du dir gewiß sein, daß ich keinen Gardeoffizier zum Buhlen habe. Es gibt einen alten Seemann, häßlich und arm, der mich bestürmt, an seiner Seite zu leben. Ansonsten gibt es noch den Laden, der Agilus und mir gehört. Er ist uns von unserer Mutter vermacht worden und nur schuldenfrei, weil wir keinen finden, der dumm genug wäre, uns dafür Geld zu leihen. Hin und wieder zerreißen wir einen Teil des Lagerbestands und veräußern ihn an die Papiermacher, um uns beiden einen Topf Linsen kaufen zu können.«
    »Heut' abend könnt ihr euch jedenfalls ein gutes Mahl leisten«, sagte ich. »Ich hab' deinem Bruder einen guten Preis für den Mantel bezahlt.«
    »Was?« Sie schien wieder guter Laune zu sein. Die Verblüffte spielend, sperrte sie den Mund auf und tat einen Schritt zurück. »Du willst mir heut' abend kein Essen kaufen? Nachdem ich dich den ganzen Tag beraten und herumgeführt habe?«
    »Wobei du den Sturm auf den Altar der Pelerinen eingefädelt hast.«
    »Das tut mir leid. Wirklich. Ich habe nicht gewollt, daß du deine Beine anstrengen mußt – du brauchst sie für den Zweikampf. Aber dann kamen diese anderen daher, und ich sah eine gute Gelegenheit für dich, ein bißchen Geld zu verdienen.«
    Ihr Blick war von meinem Gesicht zu einer dieser grimmigen Büsten entlang des Treppengeländers gewandert. Ich fragte: »Steckte wirklich nicht mehr dahinter?«
    »Offengestanden wollte ich sie in dem Glauben belassen, du seiest ein Waffenträger. Waffenträger laufen so oft in Verkleidung herum, weil sie zu Festen und Turnieren gehen, und du hast das rechte Gesicht dafür. Deswegen habe selbst ich dich bei unserer ersten Begegnung für einen solchen gehalten. Denn wärst du einer, so wäre ich jemand, den so einer – ein Waffenträger und womöglich Bastard eines Beglückten – schätzte. Auch wenn es irgendwie nur ein Spaß war. Ich hatte keine Ahnung, was geschehen würde.«
    »Verstehe«, sagte ich. Plötzlich brach ich in Lachen aus. »Was müssen wir bei unserer holprigen Fahrt in der Kutsche für ein lächerliches Bild abgegeben haben.«
    »Wenn du verstehst, dann küsse mich.« Ich sah sie mit großen Augen an.
    »Küß mich! Wieviele Gelegenheiten bleiben dir noch? Ich gewähre dir mehr, wenn du willst ...« Nach einer Pause lachte sie ebenfalls.
    »Nach dem Abendessen vielleicht. Wenn wir ein stilles Fleckchen finden können, obschon es für deinen Kampf nicht gut sein wird.« Sie fiel mir in die Arme und stellte sich auf die Zehenspitzen, um meine Lippen zu erreichen. Ihre Brüste waren fest und hoch, und ich spürte das Wiegen ihrer Hüften.
    »Dort.« Sie stieß mich weg. »Schau dort hinunter, Severian! Zwischen den Pylonen. Was siehst du?«
    Wasser glänzte wie ein Spiegel in der Sonne. »Den Fluß.«
    »Ja, der Gyoll. Nun links. Wegen der vielen Seerosen ist die Insel kaum zu erkennen. Aber das Grün darauf ist heller, leuchtender. Siehst du nicht das Glas? Wo sich das Licht bricht?«
    »Ich sehe etwas. Ist das Gebäude ganz aus Glas?«
    Sie nickte. »Das ist der Botanische Garten, zu dem wir wollen. Dort darfst du dir eine Averne pflücken – du brauchst es nur als dein Recht zu verlangen.«
    Die verbleibenden Stufen stiegen wir stumm hinab. Die Adamnische Treppe windet sich in vielen scharfen Knicken einen langen Hang hinunter und wird gern von Spaziergängern aufgesucht, die sich oft vom Fiaker oben absetzen lassen und zum Fuß der Treppe hinuntergehen. Ich sah viele vornehm gekleidete Paare, Männer mit von den Malen alter Zwiste durchfurchtem Gesicht und umhertollende Kinder. Trauriger stimmte mich, daß ich von verschiedenen Stellen aus die dunklen Türme der Zitadelle am anderen Ufer sah. Nach dem zweiten oder dritten Blick darauf fiel es mir wieder ein: als ich, von der Ufertreppe mit den rauflustigen Mietshauskindern ins Wasser hechtend, vom Ostufer weggeschwommen war, entdeckte ich ein- oder zweimal diese dünne, weiße Linie am gegenüberliegenden Ufer – so weit flußaufwärts, daß sie fast außer Sicht lag.
    Der Botanische Garten befand sich auf einer ufernahen Insel und war in einem Glasbauwerk (wie ich es noch nie gesehen und nicht für möglich gehalten hatte) untergebracht. Sein facettierter Thallus ohne Türme oder Zinnen ragte in den Himmel, bis er sich in der Höhe verlor und sein flüchtiges Gefunkel sich mit den schwachen Sternen vermengte. Ich fragte Agia, ob wir Zeit hätten, den Garten zu besichtigen – und ehe sie antworten konnte,

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