Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
teilte ich ihr mit, daß ich ihn mir anschauen würde, ob Zeit wäre oder nicht. Offengestanden hatte ich keine Bedenken, zu meinem Tod zu spät zu kommen, und es fiel mir allmählich schwer, einen mit Blumen ausgetragenen Kampf ernst zu nehmen.
    »Wenn du deinen letzten Nachmittag zum Besuch des Gartens verwenden willst, bitte sehr«, erklärte sie. »Ich komme selbst oft her. Es kostet nichts, da er vom Autarchen unterhalten wird, und ist unterhaltsam, wenn man nicht zu zimperlich ist.«
    Wir bestiegen gläserne, hellgrüne Stufen. Ich fragte Agia, ob der gewaltige Bau nur zum Treiben von Blüten und Früchten da sei.
    Sie schüttelte lachend den Kopf und deutete auf den weiten Bogengang vor uns. »Zu beiden Seiten dieses Korridors liegen Säle, und jeder Saal ist eine Landschaft, ein Lebensraum. Du mußt jedoch wissen, daß der Korridor zwar kürzer ist als das Gebäude selbst, jeder Saal aber mit jedem Schritt hinein breiter wird. Einige Leute macht das stutzig.«
    Wir traten ein, wobei uns eine solche Stille aufnahm, wie sie am Morgen der Welt geherrscht haben mußte, bevor unsere Stammväter sich bronzene Becken hämmerten, kreischende Wagenräder bauten und den Gyoll mit plätschernden Ruderschlägen teilten. Die feuchte Luft, die etwas wärmer als im Freien war, duftete angenehm. Die Wände zu beiden Seiten des Mosaikfußbodens bestanden ebenfalls aus Glas, waren aber so dick, daß man kaum hindurchsehen konnte; Blätter, Blumen und sogar aufschießende Bäume hinter den Glaswänden schaukelten, als betrachtete man sie durch Wasser. Auf einer breiten Tür las ich:
    DER SCHLAFGARTEN
    »Ihr könnt eintreten, wenn ihr wollt«, sagte ein alter Mann, der sich von einem Stuhl in einer Ecke erhob. »Und sooft ihr wollt.«
    Agia schüttelte den Kopf. »Wir haben nur für einen oder zwei Zeit.«
    »Ist das euer erster Besuch? Neulingen gefällt normalerweise der Pantomimengarten besonders.«
    Er trug eine fadenscheinige Robe, die mich an etwas erinnerte, das ich nirgendwo einordnen konnte. Ich fragte, ob es die Tracht einer Zunft sei.
    »Ja natürlich. Wir sind die Kuratoren – bist du noch nie einem aus unserer Bruderschaft begegnet?«
    »Zweimal, glaube ich.«
    »Wir sind nur wenig, doch uns obliegt das Wichtigste, dessen sich diese Gesellschaft rühmt – die Erhaltung alles Vergangenen. Hast du den Garten der Altertümer gesehen?«
    »Noch nicht«, antwortete ich.
    »Solltest du! Wenn das der erste Besuch ist, würde ich raten, mit dem Garten der Altertümer zu beginnen. Dort gibt es Aberhunderte ausgestorbener Pflanzen, darunter einige, die seit zehn Millionen Jahren nicht mehr zu sehen gewesen sind.«
    Agia fügte ein: »Diese purpurne Kletterpflanze, auf die ihr so stolz seid – habe ich wild wachsend an einem Hang in der Schuster-Allmende entdeckt.«
    Der Kurator schüttelte traurig den Kopf. »Uns sind leider Sporen verlorengegangen. Wir wissen davon ... Eine Dachscheibe ist zerbrochen, und der Wind hat sie davongetragen.« Bald wich die Betrübnis aus seinem runzligen Gesicht, ganz wie bei einfachen Menschen, die Kummer rasch überwinden. Er lächelte. »Sie wird vermutlich gut gedeihen, denn all ihre Feinde sind genauso verschwunden wie all die Leiden, die sie geheilt hat.«
    Ein dumpf polterndes Geräusch wurde vernehmbar, so daß ich mich umwandte. Zwei Arbeiter schoben einen Karren durch eine der Türen, und ich fragte, was sie machten.
    »Das ist der Sandgarten. Er wird umgestaltet. Kakteen und Yucca – derlei Gewächse. Leider ist dort jetzt nicht viel zu sehen.«
    Ich nahm Agia bei der Hand. »Komm mit, das möchte ich mir anschauen!« Sie warf dem Kurator mit einem kleinen Achselzucken ein Lächeln zu, folgte mir aber dennoch recht fügsam.
    Sand war vorhanden, aber kein Garten. Wir traten in einen scheinbar endlosen Raum, der mit Steinen übersät war. Gestein war desweiteren hinter uns zu einer Klippe aufgetürmt; dahinter verbarg sich die Wand, durch die wir gekommen waren. Unmittelbar am Eingang wucherte eine Staude, halb Busch, halb Schlingpflanze, mit fürchterlichen, gebogenen Dornen, offenbar der letzte, noch nicht entfernte Rest der alten Flora. Ansonsten wuchs hier nichts, und von der Neubepflanzung, die der Kurator angekündigt hatte, war außer den Doppelspuren des Karrens, die sich durch das Steinfeld schlängelten, nichts zu erkennen.
    »Das ist nicht viel«, sagte Agia. »Warum läßt du dich von mir nicht in den Lustgarten führen?«
    »Die Tür hinter uns steht offen – warum ist

Weitere Kostenlose Bücher