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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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und ohne Gewicht, dennoch drückt es gegen das, worauf es fällt, genau wie der unsichtbare Wind die Flügel einer Mühle antreibt. Sieh nun, was geschieht, wenn wir einander gegenüberliegende Spiegeln beleuchten. Das Abbild, das sie reflektieren, fällt vom einen auf den anderen und zurück. Angenommen, es trifft beim Zurückfallen auf sich selbst – was, meinst du, passiert dann?‹
    Domnina lachte trotz ihrer Angst und sagte, sie habe keine Ahnung.
    ›Nun, es hebt sich auf. Stell dir zwei Mädchen vor, die über eine Wiese laufen, ohne zu schauen, wohin sie gehen. Wenn sie aufeinandertreffen, gibt es keine laufenden Mädchen mehr. Falls aber die Spiegel fehlerlos und der Abstand zwischen ihnen korrekt ist, treffen sie nicht aufeinander. Vielmehr kommt das eine hinter dem anderen zu liegen. Das bleibt ohne Folgen, wenn das Licht von einer Kerze oder einem gewöhnlichen Gestirn stammt, denn das erstere und letztere Licht, das es ansonsten vorwärtstreiben würde, sind ein diffuses weißes Licht wie die diffusen Wellen, die sich ausbreiten, wenn ein kleines Mädchen eine Handvoll Kieselsteine in einen Lilienteich wirft. Entspringt das Licht hingegen einer kohärenten Quelle und formt das von einem optisch genauen Spiegel reflektierte Abbild, so ist die Ausrichtung der Wellenspitzen identisch, weil das Abbild identisch ist. Da in unserem Universum nichts die Lichtgeschwindigkeit übertrifft, verläßt das beschleunigte Licht es und betritt ein anderes. Verlangsamt es sich wieder, kehrt es in das unsrige zurück – natürlich an anderer Stelle.‹
    ›Ist es nur ein Spiegelbild?‹ fragte Domnina, den Fisch betrachtend.
    ›Er wird schließlich echt werden, wenn wir die Lampe nicht verdunkeln oder die Stellung der Spiegel verändern. Daß ein Spiegelbild ohne gegenständlichen Ursprung existiert, widerspräche den Naturgesetzen, also wird ein Gegenstand daraus hervorgehen.‹«
    »Schau«, sagte Agia, »da vorne ist etwas!«
    Der schattige tropische Urwald war so düster, daß sonnige Stellen am Weg wie flüssiges Gold glänzten. Blinzelnd spähte ich durch die feurigen Strahlenbündel.
    »Ein Haus auf gelben Holzpfählen, mit Palmwedeln gedeckt. Siehst du's nicht?«
    Etwas bewegte sich, und die Hütte sprang mir förmlich in die Augen, als sie aus dem grün-gelb-schwarzen Grund auftauchte. Ein dunkler Klecks wurde zur Tür, zwei schräge Linien zum Dachgiebel. Ein Mann in heller Kleidung stand auf einer kleinen Veranda und blickte uns entgegen. Ich ordnete meinen Mantel.
    »Brauchst du nicht«, sagte Agia. »Hier drinnen spielt das keine Rolle. Wenn dir warm ist, zieh ihn aus.«
    Ich schlüpfte aus dem Umhang und legte ihn über den linken Arm. Mit einem entsetzten Gesicht drehte der Mann auf der Veranda sich um und verschwand in der Hütte.

Die Urwaldhütte
    Zur Veranda führte eine Leiter. Wie die Hütte selbst war sie aus knorrigem Holz, mit Pflanzenfasern zusammengebunden. »Du willst doch nicht da hinauf?« entrüstete sich Agia.
    »Wenn wir alles, was es zu sehen gibt, auch sehen wollen, müssen wir«, erwiderte ich. »Und angesichts deiner Leibwäsche wäre dir wohler, wenn ich vorausginge, dachte ich.«
    Daß sie errötete, überraschte mich. »Da geht's nur zu so einem Haus, wie man es in heißen Erdteilen im Altertum benutzt hat. Es wird dich bald langweilen, glaube mir.«
    »Dann können wir wieder runtersteigen und haben sehr wenig Zeit verloren.« Ich schwang mich auf die Leiter. Sie wackelte und knarrte bedenklich, aber ich wußte, daß es an einer öffentlichen Vergnügungsstätte nichts wirklich Gefährliches gäbe. Als ich halb oben war, spürte ich Agia hinter mir.
    Das Innere war kaum größer als eine unserer Zellen, aber damit hörte jede Ähnlichkeit auf. In unserer Oubliette war der überwältigende Eindruck der von Festigkeit und Gediegenheit. Die Metallplatten der Wände hallten selbst beim leisesten Laut; die Schritte der Gesellen schallten weithin, und der Boden gab unter dem Gewicht des Schreitenden nicht um Haaresbreite nach; die Decke könnte nie einstürzen _ und wenn doch, würde sie alles unter sich zermalmen.
    Falls es stimmt, daß jeder von uns irgendwo einen genau entgegengesetzten Bruder hat – einen blonden Zwilling, ist man dunkel, einen dunklen, ist man blond –, dann war diese Hütte sicherlich der Wechselbalg zu einer unserer Zellen. An allen Seiten bis auf diejenige mit der offenen Tür, durch die wir eingetreten waren, befanden sich Fenster, die weder Gitter noch

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