Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
Vor diesen Knoten schien das Licht zu flimmern.
    »In drei Tagen könnten wir auf dem Landeplatz sein, Robert, und auf den nächsten Anflug warten.«
    »Wenn der Herr uns hierher geschickt hat ...«
    »Ja, Lehrer, wir müssen den Willen des Stolzen erfüllen! Er gibt keinen zweiten wie ihn! Lehrerin, laß mich für den Stolzen tanzen und sein Lied singen. Dann verschwinden die Tokoloshe vielleicht wieder.«
    Der Nackte entriß der Frau das Buch und begann mit der flachen Hand darauf zu trommeln – rhythmisch wie auf einem Tamburin. Er stapfte mit den Füßen auf den krummen Boden, und mit einer kindlichen Stimme, die in ein melodisches Zirpen umgeschlagen war, fing er an:
    »In der Nacht, wenn alles still,
    Hör sein Rufen in den Wipfeln!
    Sieh, wie er im Feuer tanzt!
    Er lebt im Gift des Pfeiles,
    Klein wie ein Glühwürmchen!
    Heller als eine Sternschnuppe!
    Haarige Männer ziehn durch den Wald ...«
    Agia sagte: »Ich gehe, Severian«, und trat durch die Tür hinter uns.
    »Wenn du bleiben und dir das ansehen willst, gern. Aber dann mußt du dir deine Averne allein holen und selbst zum Blutacker finden. Weißt du, was passiert, wenn du dich nicht stellst?«
    »Man hetzt Meuchelmörder auf mich, hast du gesagt.«
    »Und die Meuchelmörder setzen auf dich die Schlange namens Goldbart an. Zunächst jedoch nicht auf dich. Auf deine Familie, falls du Verwandte hast, und deine Freunde. Da ich im ganzen Stadtviertel mit dir gewesen bin, heißt das wohl mich.«
    »Er kommt, wenn die Sonne untergeht,
    Sieh seine Füße auf dem Wasser!
    Die Flammenspuren auf dem Wasser!«
    Das Lied war nicht zu Ende, aber der Sänger wußte, daß wir im Gehen begriffen waren: sein Singsang bekam einen triumphierenden Beiklang. Ich wartete, bis Agia den Erdboden erreicht hatte, und folgte ihr dann.
    Sie sagte: »Ich glaubte, du würdest nie mehr gehen. Jetzt, wo du hier bist, magst du diesen Ort wirklich so sehr?« Die metallischen Farben ihres zerrissenen Gewandes schienen so zornig wie sie selbst vor dem kühlen Grün der unnatürlich dunklen Blätter.
    »Nein«, antwortete ich. »Aber ich finde es interessant hier. Hast du ihren Flieger gesehen?«
    »Als du und der Bewohner aus dem Fenster geschaut habt? Ich bin nicht so töricht gewesen.«
    »Er war ganz anders als alle, die ich bisher zu Gesicht bekommen hatte. Eigentlich hätte ich die Dachfacetten dieses Gebäudes sehen müssen, aber statt dessen sah ich den Flieger, den er zu sehen erwartet hatte. Zumindest kam es mir so vor. Etwas von irgendwo anders. Vorhin wollte ich dir von einer Bekannten meiner Bekannten erzählen, die in Vater Inires Spiegel geraten war. Sie fand sich in einer anderen Welt wieder, und sogar als sie zu Thecla – so hieß meine Bekannte – zurückgekehrt war, bezweifelte sie, ob sie den Heimweg zu ihrem richtigen Ausgangspunkt gefunden hatte. Ich frage mich, sind nicht eher wir noch in der Welt, die jene Leute verlassen haben, als sie in der unsrigen?«
    Agia schritt bereits über den Pfad davon. Im gesprenkelten Sonnenlicht wirkten ihre braunen Haare wie dunkles Gold, als sie zu mir über die Schulter sagte: »Ich habe dich darauf hingewiesen, daß bestimmte Besucher von bestimmten Lebensräumen angezogen werden.«
    Ich rannte, um sie einzuholen.
    »Im Laufe der Zeit stimmt die Umgebung sie innerlich um, so wie sie auch uns vielleicht umstimmen. Es war wohl ein gewöhnlicher Flieger, den du gesehen hast.«
    »Er hat uns gesehen. Der Wilde ebenfalls.«
    »Es müssen wohl um so mehr alte Wahrnehmungen verbleiben, je stärker das Bewußtsein eines Bewohners entstellt ist, wie ich gehört habe. Wenn ich in diesen Gärten Ungeheuern, wilden Männern und so weiter begegne, habe ich den Eindruck als ob sie sich meiner viel bewußter wären als die anderen.«
    »Erkläre mir den Mann«, sagte ich.
    »Ich habe dieses Haus nicht gebaut. Ich weiß nur, wenn du jetzt auf diesem Weg kehrt machst, wäre die Hütte, die wir gesehen haben, höchstwahrscheinlich gar nicht mehr da. Hör zu, ich will, daß du mir versprichst, dich unverzüglich in den Garten des Ewigen Schlafes führen zu lassen, sobald wir wieder einmal draußen sind. Uns bleibt für nichts anderes mehr Zeit, nicht einmal für den Lustgarten. Und du bist wirklich nicht das geeignete Publikum zur Besichtigung der Örtlichkeiten hier.«
    »Weil ich im Sandgarten bleiben wollte?«
    »Ja, zum Teil. Früher oder später wirst du mir hier wohl Schwierigkeiten einbrocken.«
    Als sie dies sagte, umrundeten wir gerade

Weitere Kostenlose Bücher