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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Scheiben noch eine andere Füllung hatten. Fußboden, Wände und Fensterrahmen waren aus Ästen des gelben Holzes gezimmert; Stämmchen, die nicht in flache Bretter geschnitten, sondern rund belassen worden waren, so daß an verschiedenen Stellen das Sonnenlicht durch die Wände fiel; hätte ich ein abgegriffenes Orikalkum auf den Fußboden geworfen, es wäre wahrscheinlich bis auf die Erde darunter gefallen. Eine Decke gab es nicht unter den Dachschrägen, wo Tiegel, Pfannen und Säcke mit Lebensmitteln hingen.
    In einer Ecke las eine Frau laut vor, ein nackter Mann hockte zu ihren Füßen. Derjenige, den wir vom Weg aus gesehen hatten, stand am Fenster gegenüber der Tür und blickte hinaus. Ich fühlte, daß er um unsere Anwesenheit wußte (denn selbst wenn er uns vorher nicht gesehen hatte, mußte er die Erschütterungen in der Hütte, als wir die Leiter erklommen, gespürt haben), auch wenn er sich ahnungslos stellte. Man erkennt es an der Haltung, wenn jemand einem absichtlich den Rücken zukehrt, um nichts zu sehen, was ihm deutlich anzumerken war.
    Die Frau las vor: »Dann stieg er von der Ebene hinauf zum Mt. Nebo, der der Stadt zugekehrten Landspitze, und der Barmherzige zeigte ihm die ganze Gegend, alles Land bis zum Westlichen Meer. Sodann sagte er zu ihm: ›Dies ist das Land, das ich deinen Vätern für ihre Söhne verheißen habe. Du hast es geschaut, aber du sollst nicht deinen Fuß darauf setzen.‹ So starb er dort und wurde in einer Bergschlucht begraben.«
    Der Nackte zu ihren Füßen nickte. »Ebenso ist es mit unseren Herren, Lehrerin. Mit dem kleinsten Finger wird es gegeben. Aber es hängt der Daumen daran, und man braucht die Gabe nur zu nehmen, sie im Boden seines Hauses zu vergraben und mit einer Matte zu bedecken, schon beginnt der Daumen zu ziehen, und Stück für Stück hebt sich die Gabe aus der Erde, steigt zum Himmel auf und wird nie wieder gesehen.«
    Die Frau wurde darüber offenbar ungehalten und versetzte: »Nein, Isangoma ...« Aber der Mann am Fenster unterbrach sie, ohne sich umzudrehen. »Sei still, Marie! Ich will hören, was er zu sagen hat. Du kannst nachher reden.«
    »Ein Neffe von mir«, fuhr der Nackte fort, »ein Angehöriger meines Feuerkreises, hatte keinen Fisch. Also nahm er seinen Dreizack und begab sich an einen bestimmten Teich. So still beugte er sich übers Wasser, daß er ein Baum hätte sein können.« Der Nackte sprang bei diesen Worten auf die Beine und nahm mit seinem drahtigen Körper eine Haltung ein, als wollte er die Füße der Frau mit einem Lichtstrahl aufspießen. »Lange, lange Zeit stand er dort... bis die Affen ihn nicht mehr fürchteten, zurückkehrten und Stecken ins Wasser warfen, und der Hesperornis wieder sein Nest aufsuchte. Ein großer Fisch tauchte aus seiner Höhle in den versunkenen Bäumen auf. Mein Neffe beobachtete ihn, als er sehr gemächlich seine Kreise zog. Er schwamm dicht an der Oberfläche, und gerade als mein Neffe mit dem dreizackigen Speer zustoßen wollte, war kein Fisch mehr zu sehen, sondern eine liebliche Dame. Zuerst glaubte mein Neffe, der Fisch sei der Fischkönig, welcher die Gestalt verändert habe, um nicht aufgespießt zu werden. Dann bemerkte er den Fisch, der unterhalb des Frauenantlitzes schwamm, und wußte, daß er ein Spiegelbild sah. Er blickte sofort auf, sah aber nur die Ranken der Kletterpflanzen über sich. Die Frau war verschwunden!« Der Nackte blickte auf; mit gekonnter Mimik ahmte er das Erstaunen des Fischers nach. »In jener Nacht ging mein Neffe zu Numen, dem Stolzen, schnitt einem jungen Oreodonten die Kehle durch und sagte ...«
    Agia flüsterte mir zu: »Im Namen Theoanthropos', wie lange willst du denn noch bleiben? Das kann den ganzen Tag so weitergehen.«
    »Ich schau' mich noch ein bißchen in der Hütte um«, flüsterte ich zurück, »dann gehn wir.«
    »Mächtig ist der Stolze, geheiligt sind seine Namen. Sein ist alles unter dem Laub, in seiner Hand ruhen die Winde, und kein Gift tötet, liegt nicht sein Fluch auf ihm!«
    Die Frau sagte: »Die Lobpreisungen deines Fetischs sind überflüssig, Isangoma. Mein Mann will deine Geschichte hören. Also erzähl sie, aber erspar uns die Litaneien!«
    »Der Stolze beschützt seine Bittsteller! Würde es ihn nicht beschämen, käme einer seiner Verehrer ums Leben?«
    »Isangoma!«
    Vom Fenster aus sagte der Mann: »Er hat Angst, Marie. Hörst du's nicht an seiner Stimme?«
    »Wer das Zeichen des Stolzen trägt, kennt keine Angst! Sein Atem ist

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