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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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der Nebel, der die jungen Uakaris vor den Klauen des Marguay verbirgt!«
    »Robert, wenn du nichts dagegen unternimmst, ich tu's. Isangoma, sei still. Oder verschwinde und komme nie mehr zurück!«
    »Der Stolze weiß, daß Isangoma die Lehrerin liebt. Er würde sie retten, wenn er könnte.«
    »Retten wovor? Glaubst du, hier schleicht sich eines deiner schrecklichen Raubtiere herum? Wenn eins käme, würde Robert es mit seinem Gewehr erschießen.«
    »Den Tokoloshe, Lehrerin. Die Tokoloshe kommen. Aber der Stolze wird uns mit seinem Nebel beschützen. Er ist der mächtige Herr aller Tokoloshe! Wenn er brüllt, verstecken sie sich unter dem gefallenen Laub.«
    »Robert, ich glaube, er hat den Verstand verloren.«
    »Er hat Augen, Marie, im Gegensatz zu dir.«
    »Was meinst du damit? Und warum starrst du dauernd aus dem Fenster?«
    Ziemlich langsam kehrte sich der Mann uns zu. Nach einem flüchtigen Blick auf Agia und mich wandte er sich ab. Sein Gesichtsausdruck erinnerte mich an die Miene unserer Klienten, wenn ihnen Meister Gurloes die in ihrer Anacrisis zu verwendenden Instrumente zeigte.
    »Robert, um Gottes willen, was hast du denn?«
    »Wie Isangoma sagt, sind die Tokoloshe hier. Nicht seine, sondern wohl unsere. Der Tod und die Dame. Schon davon gehört, Marie?«
    Die Frau schüttelte den Kopf. Sie war aufgestanden und öffnete den Deckel eines Kästchens.
    »Wohl kaum. Es ist ein Bild – vielmehr ein künstlerisches Thema. Gibt Bilder von mehreren Malern. Isangoma, ich glaube nicht, daß dein Stolzer viel Macht über diese Tokoloshe hat. Die da kommen aus Paris, wo ich studiert habe, um mir Vorwürfe zu machen, daß ich die Kunst wegen dem hier aufgegeben habe.«
    Die Frau sagte: »Du hast Fieber, Robert. Keine Frage. Ich werde dir was geben, und bald geht's dir wieder besser.«
    Der Mann blickte wieder zu uns, von Agias Gesicht in das meinige, als ob er das nicht wollte, sondern die Kontrolle über die Bewegung seiner Augen verloren hätte. »Wenn ich krank bin, Marie, dann wissen die Kranken Dinge, die die Gesunden übersehen haben. Auch Isangoma weiß, daß sie hier sind, vergiß das nicht. Hast du nicht beim Lesen das Wackeln des Fußbodens gespürt? Da sind sie hereingekommen, glaube ich.«
    »Ich habe dir ein Glas Wasser eingegossen, damit du dein Chinin schlucken kannst. Das Wasser schwabbelt nicht im geringsten.«
    »Was sind sie, Isangoma? Tokoloshe – aber was sind Tokoloshe?«
    »Böse Geister, Lehrer. Wenn ein Mann Böses denkt oder eine Frau Böses tut, entsteht ein Tokoloshe. Er bleibt zurück. Man glaubt: Keiner weiß es, alle sind tot. Aber die Tokoloshe bleiben bis zum Ende der Welt. Dann wird jeder sehen und wissen, was derjenige getan.«
    Die Frau sagte: »Was für eine entsetzliche Vorstellung.«
    Ihr Mann klammerte sich mit der Hand an die dünnen gelben Holzstämme der Fensterbank. »Verstehst du nicht, daß sie nur das Ergebnis unserer Taten sind? Die Geister der Zukunft, die wir selbst schaffen.«
    »Nichts als heidnischer Unsinn, das verstehe ich, Robert.
    Horch! Du hast einen scharfen Verstand, aber kannst du nicht einen Augenblick lang lauschen?«
    »Ich höre. Was willst du sagen?«
    »Nichts. Du sollst nur die Ohren spitzen. Was hörst du?«
    In der Hütte wurde es still. Auch ich lauschte und hätte nicht lauschen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Draußen schwatzten die Affen und kreischten die Papageien wie zuvor. Dann vernahm ich neben der Lautkulisse des Urwalds ein schwaches Brummen, als flöge in der Ferne ein schiffsgroßes Insekt vorüber.
    »Was ist das?« wollte der Mann wissen.
    »Das Postflugzeug. Mit ein bißchen Glück kannst du es gleichsehen.«
    Der Mann streckte den Kopf zum Fenster hinaus, und ich — neugierig, wonach er Ausschau hielt – trat ans Fenster zu seiner Linken und blickte ebenfalls hinaus. Das Laubwerk war so dicht, daß es zunächst unmöglich schien, etwas zu sehen, aber er starrte fast senkrecht am Rand des Palmendachs vorbei nach oben, und ich entdeckte dort schließlich ein Stück Himmelsblau.
    Das Brummen wurde lauter. Es tauchte der seltsamste Flieger auf, den ich je gesehen hatte. Er war mit Flügeln ausgestattet, als hätte ihn eine Rasse gebaut, die noch nicht erkannt hatte, daß der Auftrieb – denn er konnte nicht wie ein Vogel mit den Schwingen schlagen – wie bei einem Drachen leicht allein mittels des Rumpfes zu bewerkstelligen ist. Jeder der Fittiche wies eine knollige Verdickung auf, eine dritte saß an der Rumpfspitze.

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