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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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einen der offenbar endlosen Bögen dieses Pfades. Ein Baumstamm, an dem ein kleines weißes Rechteck hing, das nichts anderes als ein Namensschild sein konnte, lag quer über dem Weg. Durch das dichte Laub erkannte ich zu unserer Linken die Mauer aus grünlichem Glas als undurchsichtigen Hintergrund zum Blattwerk. Agia war bereits einen Schritt an der Tür vorbeigegangen, als ich mein Terminus Est in die andere Hand nahm und sie ihr öffnete.

Dorcas
    Als ich zum ersten Mal von der Blume gehört hatte, stellte ich mir vor, Avernen würden in Beeten oder Reihen wie jene im Konservatorium der Zitadelle gezogen. Später, als Agia mir mehr über den Botanischen Garten erzählt hatte, dachte ich an etwas wie unsere Nekropolis, wo ich als Kind herumgetollt war, mit Bäumen und verfallenen Gräben und knochenbestreuten Wegen.
    Die Wirklichkeit war ganz anders – ein dunkler See in einem endlosen Moor. Unsere Füße versanken in der Segge, und ein kalter Wind, dem offenbar nichts Einhalt gebieten konnte, ehe er das Meer erreichte, blies uns ins Gesicht. Binsen wuchsen neben dem Pfad, den wir beschritten, und ein- oder zweimal strich über uns ein Wasservogel hin, dessen Bild sich schwarz vom dunstigen Himmel abzeichnete.
    Ich hatte Agia von Thecla erzählt. Nun tippte sie mir auf den Arm.
    »Du kannst sie von hier aus sehen, obschon wir noch um den halben See gehen müssen, um eine zu pflücken. Schau, wohin ich zeige ... diesen weißen Fleck.«
    »Von hier aus wirken sie nicht gefährlich.«
    »So haben recht viele Leute gedacht, kann ich dir versichern. Manche davon haben in diesem Garten wohl ihre letzte Ruhestätte gefunden.«
    Es gab also doch Gräber. Ich fragte, wo die Mausoleen ständen.
    »Gibt keine. Noch Särge oder Urnen oder derlei Zeug. Schau zum Wasser, durch das du mit den Stiefeln patschst!«
    Ich schaute. Es war braun wie Tee.
    »Es hat die Eigenschaft, Leichen zu konservieren. Man beschwert die Toten mit Blei, das man ihnen in den Hals stopft, und versenkt sie dann, wobei man die genaue Lage verzeichnet, so daß sie später wieder aufgefischt werden können, falls jemand sie sich besehen will.«
    Ich hätte gern gewettet, daß sich keine Menschenseele im Umkreis einer Meile von uns befand – oder zumindest (falls die Kammern des gläsernen Baus den Raum, den sie umschlossen, auch wirklich begrenzten, wie es den Eindruck hatte) innerhalb der Mauern vom Garten des Ewigen Schlafs. Aber kaum hatte Agia diesen Ausspruch getan, tauchten ein Dutzend Schritte entfernt über den Spitzen des Schilfs der Kopf und die Schultern eines alten Mannes auf.
    »Das stimmt nicht«, rief er. »Ich weiß, das sagt man, aber es stimmt nicht.«
    Agia, die das zerrissene Mieder ihres Gewandes einfach herabhängen ließ, zog es rasch wieder über ihre entblößte Brust. »Ich wußte gar nicht, daß ich mit jemand anders als meinem Begleiter hier sprach.«
    Der alte Mann beachtete den Tadel nicht. Sicherlich waren seine Gedanken bereits so mit der erlauschten Bemerkung beschäftigt, daß er sich um nichts anderes mehr kümmerte. »Ich habe die Zahl hier – wollt Ihr sie sehen? Ihr, junger Sieur – Ihr seid ein Mann von Bildung, das sieht man Euch an. Wollt Ihr sie sehen?« Er trug offenbar einen Stock. Ich hatte bemerkt, wie die Spitze davon sich mehrmals auf- und niederbewegte, bevor ich erkannte, daß er einen Kahn in unsere Richtung stakte.
    »Neue Scherereien«, sagte Agia. »Gehen wir besser.«
    Ich fragte, ob uns der Greis nicht übersetzen könnte, so daß uns der Weg um den halben See erspart bliebe.
    Er schüttelte den Kopf. »Zu schwer für meinen kleinen Kahn. Es hat nur Platz für Cas und mich. Mit Euch gewichtigen Leuten würden wir kentern.«
    Der Bug kam in Sicht, und ich stellte fest, daß er die Wahrheit gesprochen hatte: das Boot war so klein, daß es mit dem Greis selbst fast schon überfordert schien, obwohl der altersgebeugte, abgezehrte Mann (der noch betagter als Meister Palaemon wirkte) kaum schwerer als ein zehnjähriger Knabe gewesen sein mochte. Bei ihm saß niemand in dem Gefährt.
    »Verzeiht, Sieur«, sagte er, »aber ich kann nicht noch näher kommen. Ist's hier auch tief, dort wird's mir zu seicht und trocken, sonst könntet Ihr nicht darauf gehen. Könnt Ihr etwas nähertreten, damit ich Euch meine Zahl zeigen kann?«
    Neugierig geworden, was er von uns wollte, kam ich seiner Bitte nach. Agia folgte mir widerwillig.
    »Hier, seht!« Er griff in seine Tunika und zog eine kleine Schriftrolle

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