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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Kiel her, winzige Wellen, die wie Kätzchenzungen an dem Riedgrasstreifen leckten.
    »Bist du sicher, daß du sie wiedererkennst nach so vielen Jahren, wenn du sie findest?«
    »Ja ... ja.« Er nickte, zuerst bedächtig, dann heftig. »Ihr denkt, ich hätte sie schon am Haken gehabt. Hätt' sie raufgezogen, angeschaut und wieder reingeworfen, nicht wahr? Unmöglich. Cas nicht erkennen? Ihr habt gefragt, warum ich sie wiederhaben will. Ein Grund ist die letzte Erinnerung, das stetigste Andenken an sie: wie das braune Wasser über ihrem Gesicht zusammenschlägt. Ihre Augen sind geschlossen. Kennt Ihr das?«
    »Ich bin nicht sicher, was du meinst.«
    »Sie versiegeln die Augen mit einem Zement, der sie für immer geschlossen halten soll. Aber als sie mit dem Wasser in Berührung kamen, öffneten sie sich. Erklärt mir das! Daran erinnere ich mich, das kommt mir in den Sinn, wenn ich einschlafen will. Dieses braune Wasser, das über ihr Gesicht strömt, und die sich öffnenden Augen, die durch die Brühe schimmern. Ich muß jede Nacht fünf- bis sechsmal einschlafen, so oft erwache ich. Bevor ich mich hier selbst zur Ruhe lege, möchte ich ein anderes Andenken – ihr wieder auftauchendes Gesicht, selbst wenn's nur an der Spitze meines Hakens hängt. Versteht Ihr, was ich meine?«
    Ich dachte an Thecla und das unter der Tür ihrer Zelle hervorsickerne Blutrinnsal und nickte.
    »Dann ist da noch etwas. Cas und ich, wir hatten einen kleinen Laden. Hauptsächlich für Cloisonne. Ihr Vater und Bruder stellten es her und richteten uns in der Mitte der Signalstraße direkt neben dem Auktionshaus das Geschäft ein. Das Gebäude steht noch, ist aber unbewohnt. Ich ging immer zur angeheirateten Verwandtschaft, schleppte die Kästen auf meinem Rücken heim, packte aus und legte die Stücke in die Regale. Cas zeichnete sie aus, verkaufte sie und hielt alles in bester Ordnung! Wißt Ihr, wie lange wir ihn geführt haben? Den kleinen Laden?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Vier Jahre, bis auf einen Monat und eine Woche. Dann starb sie. Es dauerte nicht lange, bis alles weg war, doch das war der wichtigste Abschnitt meines Lebens. Nun habe ich einen Schlafplatz auf einem Dachboden. Ein Mann, den ich vor Jahren gekannt habe, obschon das Jahre nach Cas' Tod gewesen ist, läßt mich dort schlafen. Dort gibt es kein Stück Cloisonne, kein Gewand, nicht das geringste aus dem alten Laden. Ich bewahrte ein Medaillon und Cas' Kämme auf, doch alles ging verloren. Alles. Nun sagt mir: woher soll ich wissen, daß es nicht nur ein Traum gewesen ist?«
    Es schien mir, der alte Mann stehe unter einem Bann wie die Leute in der gelben Holzhütte; also entgegnete ich: »Das weiß ich nicht. Vielleicht ist es, wie du sagst, ein Traum gewesen. Doch solltest du dich nicht so quälen.«
    Seine Stimmung schlug mit einemmal um, wie ich es oft bei kleinen Kindern gesehen hatte, und er lachte. »Es ist nicht schwer zu erkennen, Sieur, daß Ihr trotz der Tracht unter diesem Mantel kein Folterer seid.
    Ich wünsche aufrichtig, ich könnte Euch und Eure Buhlin übersetzen. Da ich's nicht kann, findet Ihr ein Stück weiter einen Mann mit einem größeren Kahn. Er kommt recht oft her und redet zuweilen wie Ihr mit mir. Sagt ihm, ich hoffte, er führe Euch hinüber.«
    Ich dankte ihm und eilte hinter Agia her, die inzwischen weit voraus war. Sie hinkte, und mir fiel ein, wie lange sie heute schon zu Fuß unterwegs war, nachdem sie sich das Bein lädiert hatte. Als ich im Begriff war, sie einzuholen und ihr als Stütze meinen Arm zu reichen, tat ich einen jener Fehltritte, die einem zunächst verheerend und äußerst erniedrigend vorkommen, obwohl man später darüber lacht; und hierbei setzte ich einen der wunderlichsten Vorfälle in meiner zugegebenermaßen wunderlichen Laufbahn in Gang. Ich fing zu rennen an und geriet dabei dem inneren Rand einer Kurve des Pfades zu nahe.
    Eben noch über die federnde Segge hüpfend, purzelte ich im nächsten Moment, von meinem Mantel mächtig behindert, in das eiskalte braune Wasser. Einen Atemzug lang spürte ich wieder die Angst vor dem Ertrinken; dann fing ich mich ab und brachte mein Gesicht über Wasser. Die bei vielen sommerlichen Bädern im Gyoll entwickelten Gewohnheiten kamen wieder zur Geltung: Ich pustete das Wasser aus Nase und Mund, atmete durch und zog die triefende Kapuze aus dem Gesicht zurück.
    Kaum hatte ich mich wieder gefaßt, erkannte ich, daß mir Terminus Est entglitten war, und der Verlust meiner Waffe

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