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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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hervor. »Hier ist die Position. Seht selbst, junger Sieur!«
    Die Rolle war beschrieben mit einem Namen und einer langen Aufzählung, wo die Betreffende gewohnt hatte, wessen Gattin sie gewesen war und womit sich ihr Gemahl sein Brot verdient hatte. Ich muß zugeben, daß ich nur so getan habe, als würde ich das alles lesen. Unter der Aufzählung befand sich eine grobe Skizze mit zwei Ziffern.
    »Wie Ihr seht, Sieur, sollte es ganz einfach sein. Die erste Zahl bezeichnet die Schritte vom Fulstrum herüber, die zweite die Schritte hinauf. Würdet Ihr mir nun glauben, daß ich in all den Jahren versucht habe, sie zu finden, und noch nicht gefunden habe?« Mit einem Blick auf Agia richtete er sich qualvoll auf, bis er in einer fast normalen Haltung stand.
    »Ich glaube es«, erwiderte Agia. »Und ich bedauere es – wenn dich das tröstet. Doch wir haben damit nichts zu schaffen.«
    Sie wandte sich zum Gehen um, doch der alte Mann schob seine Stange vor und hinderte mich daran, ihr zu folgen. »Glaubt ja nicht, was sie sagen. Sie versenken sie dort, wo es die Zahlen zeigen, aber sie bleiben nicht dort. Sie wandern. Einige wurden sogar schon im Fluß gesehen.« Er blickte irgendwo zum Horizont. »Da draußen.«
    Ich gab zu verstehen, daß ich das für ausgeschlossen hielte.
    »Das ganze Wasser hier, woher, glaubt Ihr, kommt das? Es wird durch einen unterirdischen Kanal herangeführt, denn ohne den würde das alles hier austrocknen. Wenn sie anfangen, sich zu bewegen, was sollte dann eine daran hindern, hinauszuschwimmen? Was zwei Dutzend? 'ne richtige Strömung jedenfalls gibt's keine. Ihr und sie – Ihr seid wegen einer Averne gekommen, hab' ich recht? Wißt Ihr überhaupt, weswegen sie hier gepflanzt wurden?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Wegen der Lamantine. Sie leben im Fluß und schwammen immer durch den Kanal herein. Es ängstigte die Verwandten, ihre nickenden Gesichter durchs Wasser tanzen zu sehen, also ließ Vater Inire die Gärtner Avernen pflanzen. Ich bin damals dabeigewesen und hab's gesehen. Er ist nur ein kleines Männchen mit einem schiefen Hals und O-Beinen. Wenn jetzt ein Lamantin kommt, töten ihn diese Blumen in der Nacht. Eines Morgens, als ich nach Cas gesucht habe, wie ich es immer tue, wenn ich mich nicht um andere Dinge kümmern muß, haben zwei Kuratoren mit einer Harpune am Ufer gestanden. Toter Lamantin im See, sagten sie. Ich fuhr mit meinem Haken hinaus und zog ihn herauf, aber es war kein Lamantin, sondern ein Mann. Er hatte das Blei ausgespien, oder man hatte ihm nicht genug hineingestopft. Ausgesehen hat er so gut wie Ihr oder sie und besser als ich.«
    »War er schon lange tot?«
    »Kann man nicht sagen, denn das Wasser hier pökelt sie. Wie man sagt, gerbt es ihre Haut zu Leder, und das tut es auch. Aber Ihr dürft dabei nicht an Eure Schuhsohle denken, 's ist eher wie ein Frauenhandschuh.«
    Agia war uns schon weit voraus, und ich machte mich auf den Weg, um sie einzuholen. Der Greis folgte uns, indem er seinen Kahn parallel zu dem treibenden Riedgrasstreifen voranstakte.
    »Ich sagte ihnen, ich hätte an einem Tag mehr Glück für sie als in vierzig Jahren für mich selbst gehabt. Hier, das ist mein Werkzeug.« Er hielt einen eisernen Enterhaken an einem Stück Seil hoch. »Nicht daß ich nicht allerlei Verschiedene erwischt hätte. Doch nicht Cas. Ich begann, wo es durch die Zahlen angegeben war, ein Jahr nach ihrem Tod. Da sie dort nicht war, arbeitete ich mich weiter hinaus. Nach fünf Jahren war ich himmelweit – wie ich damals glaubte – von der angegebenen Stelle entfernt. Da ich allmählich befürchtete, sie läge doch am ursprünglichen Ort, begann ich wieder von vorne. Zunächst an besagter Stelle, dann wieder Stück um Stück nach draußen. Das machte ich zehn Jahre lang. Nun habe ich wieder die Befürchtung, also beginne ich am Morgen an besagter Stelle mit dem ersten Wurf. Komme ich dorthin, wo ich das letzte Mal aufgehört habe, arbeite ich mich kreisförmig weiter. Sie liegt nicht an der angegebenen Stelle – das weiß ich. Inzwischen kenne ich alle, die dort liegen, und manche habe ich schon zum hundertsten Mal heraufgezogen. Sie wandert umher, und ich denke dauernd, daß sie vielleicht doch noch heimkommt.«
    »War sie deine Frau?«
    Der alte Mann nickte, sagte aber zu meiner Überraschung weiter nichts.
    »Warum willst du ihre Leiche wiederfinden?«
    Immer noch schwieg er. Lautlos glitt die Stange durchs Wasser; der Kahn zog nur kleinste Strudel hinter seinem

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