Der Schatten des Horus
machte sich breit.
»Das ist die zauberhafte Umm Kulthum«, schwärmte Yusuf. »Ich glaube, ihre Stimme kann Steine zum Weinen bringen!« Den Rest des Liedes sang er mit, immer eine Spur neben der Melodie. Unwillkürlich musste Sid nun auch lachen. Die Unbekümmertheit und Fröhlichkeit des jungen Mannes imponierten ihm. Keine rote Ampel brachte ihn aus der Ruhe, keine dreisten Autofahrer, die mit lautem Hupen vor ihm in die Qasr el-nil einfädelten, brachten ihn zum Schimpfen.
»In Amerika habe ich mich nicht ins Auto getraut«, berichtete er. »Zu gefährlich. Keiner fährt so, wie es der gesunde Menschenverstand gebietet. Alle halten sich an die komplizierten Verkehrsregeln– stoppen, fahren, abbiegen, wenn es die Schilder sagen! Hier bei uns ist das einfacher!« Er streckte den Arm aus dem Fenster und zeigte nach rechts, auf einen kreisförmigen Platz. Hupend warnte er einen Verkehrspolizisten, der Uniformierte beeilte sich, die Kreuzung für die Rostlaube frei zu machen.
»Ist dein Blinker kaputt?«, wollte Sid wissen.
Yusuf zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, ich hab ihn noch nie ausprobiert. So ein kleines Licht sieht doch sowieso niemand!« Er riss das Lenkrad herum und schob den Ford in eine gerade frei gewordene Parklücke. »Heute ist mein Glückstag!«, jubelte er. »Erst habe ich euch gefunden und dann noch einen Platz direkt unter den Augen von Talaat Harb!« Er zeigte auf eine Statue in der Mitte des Kreisverkehrs. »Der Gründer der Ägyptischen Nationalbank!« Mit fröhlichem Gesicht wand sich Yusuf hinter dem Steuer hervor und winkte einen vorbeigehenden Wasserverkäufer herbei. Für ein paar Münzen kaufte er ihm einen Becher ab, lehnte sich gegen die Motorhaube und leerte ihn in einem einzigen langen Zug.
Sid und Rascal stiegen aus. Der Midan Talaat Harb war von gepflegten weißen Gebäuden umgeben, die aber dem Baustil nach schon hundert Jahre alt sein mussten. Entfernt fühlte sich Sid an die Prachtbauten in Soho erinnert. Im Erdgeschoss reihten sich moderne Geschäfte aneinander. Das Haus, vor dem sie gehalten hatten, schien sich in seiner leichten Bogenform an die überfüllte Straße anzukuscheln. Ohne den Strohhalm aus dem Mund zu nehmen deutete Yusuf mit dem Kinn auf den Eingang des Lialy Hostels, im ersten Obergeschoss warb ein farbenfrohes Schild für das 4U Internet Café .
Sid wischte sich den Schweiß von der Stirn und stieg die Treppe hoch. Rascal folgte ihm. Geschäftstüchtig wies ihnen ein junger Typ einen freien Platz zu. Rascal schob er einen zweiten Stuhl hin. Als er ihr dabei allzu forsch auf den Hintern starrte, blitzte ihn Sid böse an. Pfeifend machte sich der Junge aus dem Staub.
»Meinst du wirklich, du findest eine Erklärung für meine überempfindlichen Sinne bei Wikipedia?«, fragte Sid skeptisch.
»Irgendwo müssen wir ja anfangen«, antwortete sie schnippisch. »Da ich nicht glaube, dass sie dir auch am Rüssel herumgeschnippelt haben, kann die Lösung doch nur etwas mit dem Herz zu tun haben!«
Herumgeschnippel t – das Wort versetzte Sid einen Stich. »Manchmal ist deine Flapsigkeit ziemlich unangebracht«, beschwerte er sich. Seine eigene Direktheit überraschte ihn dabei am allermeisten.
Rascal aber nahm es ihm nicht übel. Mit schiefem Mund drückte sie ihm einen Kuss auf die Lippen. »Du hast Recht! Jetzt besser?«
Sid grinste. »Vorsicht! Wir sind in einem muslimischen Land!«
Rascal antwortete nicht mehr. Konzentriert hackte sie auf die Tasten des Computers ein. Nach mehreren Versuchen, die sie nicht weiterbrachten, googelte Rascal Transplantation . Unappetitliche Operationsbeschreibungen tauchten auf dem Bildschirm auf, die Sid erzittern ließen. Er wollte das alles gar nicht wissen!
Plötzlich pfiff Rascal leise durch die Zähne. »Sieh dir das an!«, stöhnte sie überrascht. Der Adobe Reader hatte einen Fachartikel aus einer Zeitschrift mit dem schaurigen Namen Journal of Near Death Studies geöffnet. Die Überschrift lautete: Changes in heart transplant recipients that parallel the personalities of their donors . Er handelte von einem parapsychologischen Phänomen: dem Zellgedächtnis.
20. Kapitel
Journal of Near-Death Studies, 20(3),
Frühjahr 2002, Seiten 191 ff.
Persönlichkeitsveränderungen bei Empfängern von Herztransplantaten in Analogie zu den Spendern
Paul Pearsall, Ph.D.
University of Hawaii
Gary E . R. Schwartz, Ph.D.
Linda G . S. Russek, Ph.D.
University of Arizona
ZUSAMMENFASSUNG Es wird im Allgemeinen angenommen,
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