Der Schatten des Horus
Er tippte KV in das Eingabefeld von Google.
Beim zweiten Klick wurde er fündig. »Hör mal zu: Die Gräber im Tal der Könige wurden durchlaufend nummeriert, wobei den Ziffern die Buchstaben KV wie Kings’ Valley vorangestellt wurden. Die Nummerierung geht auf John Gardner Wilkinson zurück, der 1827 mit einem Pinsel und einem Eimer roter Farbe durch das Tal wanderte und jedem Grab, das er fand, eine Nummer gab. Verstehst du, was ich meine?«
Rascal schüttelte ratlos den Kopf.
»Dann weiter!« Eine Liste aller Gräber im Kings’ Valley erschien. Sid scrollte sie ungeduldig herunter. K V 26, 27, 28, 29 entdeckt vor 1832, K V 30 und 31 freigelegt von Giovanni Belzoni 1817.
»Und dann?« Sid deutete triumphierend auf die flimmernde Zahl auf dem Bildschirm. »K V 32, Grab der Königin Tia’a, aufgespürt von Victor Loret, 1898! Und die folgenden auch: K V 33 bis K V 61 in den Jahren bis 1910! Eine falsche Nummerierung ist also ebenso ausgeschlossen.« Sid schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Wir haben so viele Bäume gesehen, dass wir den Wald nicht erkannt haben. Als Nagy um 1875 hier im Tal war, gab es noch gar kein Grab K V 32!«
Rascal sah ihn verblüfft an. Ihre blauen Augen funkelten wie ein Bergsee im Abendrot. Sid genoss jede Sekunde.
»Das geht auf meine Kappe«, stammelte Rascal schuldbewusst. »Warum habe ich darüber nicht sofort nachgedacht? Zeit genug hatte ich ja!«
Sid drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Du darfst ja alles wiedergutmachen. Der Hinweis K V 32, wenn nur 3 1 Gräber entdeckt waren, kann doch nur eins bedeuten: Attila Nagy war in einer Gruft, die seit der Pharaonenzeit niemand betreten hatte. Wenn man nur wüsste, ob sie mittlerweile gefunden wurde.«
Rascal ließ sich auf das Bett fallen. »Wie soll man das jemals herausfinden? Die Siegel vor Tutanchamuns Grab waren erbrochen, als Howard Carter es fand. Aber die Schätze waren noch alle da.« Sie beobachtete den kreisenden Ventilator an der Decke. »Wenn also Nagy schon vorher drin war, um seine gefährlichen Aufzeichnungen aus dem Notizbuch zu verstecken, sind sie längst vernichtet. Und alle, die damals dabei gewesen sein könnten, sind längst tot.«
Ein Gedanke traf Sid, wie ein Blitz zuckte er plötzlich auf. Grinsend warf er sich neben Rascal. Die Matratze federte lange nach. »Was bekomme ich, wenn ich dich ein zweites Mal überrasche?«
Rascal rückte mit ihrem Gesicht ganz nahe an seins. Ihre Schönheit raubte ihm fast den Atem. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Das als Anzahlung. Und jetzt lass mal hören, Seraphi n …«
48. Kapitel
Oh, wie war ich zornig in meinem Gefängnis! Ja, jetzt erinnere ich mich!
Mein Mund war verschlossen, also drangen keine Worte über meine Lippen. Mein Herz aber dachte im Stillen. Reuig sprach es zu Seth.
»Höre!«, rief mein unsterbliches Herz. »Ich habe dich erzürnt, als ich die Kalten nahm, mein Kraut entzündete und sie zurückholte! Eitel war ich, ihr Jubel galt mir, nicht dir! Mein Versprechen an dich, kein ba zurückzuholen, vergaß ich. Und es wurde voll auf der Welt, denn die mit mum bestrichenen zählten bald tausend mal tausend mal tausend und noch mehr. Sie sangen meinen Namen und fürchteten dich nicht mehr, oh Seth! Du hast Chufu geschickt, um mich zu bestrafen, und das war gut so, denn ich erkenne meine Sünden. Aber jetzt höre, was ich dir anzubieten habe, wenn du mich aus meinem Kerker befreist!«
Und ich versprach ihm, die Welt zu säubern von den falschen Seelen und allen, die nicht Seth fürchteten noch von ihm gehört hatten. Dann übte ich mich in Geduld.
Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
49. Kapitel
Theben West, Al Qurna, Sonntag, 4 . November 2007, Nachmittag
Das bunte Dorf wirkte in der vegetationslosen Mondlandschaft zwischen Tempelanlagen und Monumenten wie ein von Kinderhänden verunstaltetes UFO. Die Formen und Farben passten nicht, die Zeit war vollkommen falsch: Die Lehmziegelhäuser waren zu neu für das Tal der Könige und zu alt für Luxor, die moderne Stadt. Am Berghang klebten sie wie Schwalbennester. Rascal zog die Nase kraus, ihr Ring bebte. Sid konnte sehen, was hinter ihrer Stirn vorging. Der Gedanke, dass hier, im Tal der Toten, auch Menschen wohnten!
Bis hierher hatte er sich durchgefragt, immer wieder andere Himmelsrichtungen eingeschlagen. Die steinernen Memnonkolosse, stille, einsame, riesige, gesichtslose Wächter des Wadi, mehrmals von West und Ost passiert, bis er
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