Der Schatten des Horus
aus und bog in einen Seitenweg ein. Bevor ihn das nachfolgende Polizeiauto wieder im Blickfeld hatte, waren sie hinter einer Reihe windschiefer Wellblechhütten verschwunden.
Während Yusuf den klapprigen Kombi über schmale Eselspfade am Nil entlanghetzte, kletterten Rascal und Sid über den Rücksitz in den Kofferraum. Die unzähligen Schlaglöcher und Gesteinsbrocken, über die Yusuf den Wagen rücksichtslos jagte, ließen allerdings jeden Versuch von Rascal, es sich einigermaßen gemütlich zu machen, kläglich scheitern. Wie in der Achterbahn wurden sie immer wieder gegeneinandergeschleudert, was Sid wiederum nicht schlecht gefiel.
Tatsächlich schaffte es ihr Führer, den Konvoi abzuhängen. Als sie wieder auf die asphaltierte Straße einbogen, hatten sie freie Fahrt.
»So ist Allah!«, frohlockte Yusuf. »Er schickt Hilfe, wenn man Hilfe braucht!« Er schaltete das Radio ein und drehte so lange am Senderknopf, bis der unvermeidliche Gesang ertönte. Seine geliebte Umm Kulthum, Al-Sitt, die Dame, wie er die größte arabische Stimme aller Zeiten ehrfurchtsvoll nannte. Zu seinem großen Glück stellte sich die Sendung als Hommage an die Sängerin heraus, vier Stunden sollte sie gehen. Yusuf, der lauthals mitsang, war erst mal abgelenkt.
Rascal hockte sich in den Schneidersitz und zog die Mail aus ihrem Seesack. »Ich habe nachgedacht«, erklärte sie. »Die wellenförmigen Erosionen finden sich am Körper, nicht aber am Kopf der Sphinx. Die Erklärung ist nach all dem, was wir nun wissen, eigentlich ganz einfach!« Sie kramte einen Kuli hervor und zeichnete ziemlich wirklichkeitsgetreu die Umrisse der Sphinx von der Seite. Sid staunte, genauso hatte er das Standbild auch in Erinnerung. Großer, angefressener Körper, aber viel zu kleiner, glatter Kopf. »Die falschen Proportionen sind uns ja bereits aufgefallen«, fasste Rascal noch einmal zusammen. »Hier ist die Lösung!« Ausgehend von der Brust der Sphinx zog sie einen Strich nach oben und setzte ihr einen Hundekopf auf. Jetzt stimmten die Größenverhältnisse, und es sah Seth verdammt ähnlich. »Das Standbild war schon ewig da, aber Cheops oder meinetwegen Chephren haben sein Antlitz zerstört und ihm ein neues Gesicht gegeben. Da es aus dem vorhandenen Stein herausgehauen werden musste, ist es zwangsläufig etwas zu klein ausgefallen!« Sie sah Sid triumphierend an.
»Wow!«, entfuhr es ihm. Rascal hatte soeben sämtliche Lehrmeinungen, die über die alten Ägypter und die Sphinx von Giza vorherrschten, vom Tisch gefegt. Auf jedem wissenschaftlichen Kongress würde man sie dafür wahrscheinlich mit Eiern bewerfe n – untrügliches Zeichen dafür, dass sie Recht haben könnte. Rascal begann hinter die Figur noch die Pyramiden einzuzeichnen, aber Sid griff nach ihrer Hand.
»Ich habe deine Spielchen jetzt lange genug mitgemacht«, sagte er ernst. »Jetzt will ich endlich mehr von dir wissen. Wer bist du? Woher weißt du immer alles? Warum verstehst du Deutsch und Arabisch? Und warum bist du bei mir? Wenn du mich wieder vertröstest, sage ich Yusuf, er soll anhalten und mich hier rauslassen. Allein!« Sid sah Rascal in die blauen Augen, er ertrank beinahe in diesem Ozean, seine Knie zitterten vor Aufregung, aber er blieb standhaft. Und sie bemerkte, dass es ihm ernst war, denn ihre Pupillen zogen sich zusammen, als wäre es unvermittelt hell geworden.
»Also gut«, seufzte sie. »Ich hab’ mich insgeheim schon gefragt, wann du damit kommst. Zeit, ein paar Dinge zu klären, auf die ich nicht stolz bin.« Ihre Finger suchten den silbernen Herzanhänger an ihrem Hals. »Ich bin sechzehn Jahre alt und meine Eltern sind so pervers reich, dass es peinlich ist. Meine Familie widmet sich schon seit vielen Generationen de r … nennen wir es: internationalen Diplomatie.«
Yusuf bremste scharf und riss das Lenkrad herum. Ein Maultier starrte in den Wagen.
»Ich habe schon als Kind die halbe Welt bereist und mir wurde die beste Bildung zuteil, wie es so schön heißt«, nahm Rascal den Faden wieder auf. »Französisch, Deutsch, Russisch. Literatur und Geschichte, Politik und Geografie. Dazu Geige und Klavier, Reiten, ein bisschen Fechten. Alles bei Privatlehrern selbstverständlich. Ich war ein braves Kind, lernte fleißig und machte meinen Eltern damit viel Freude. Aber mit dreizehn hatte ich genug davon. Ich suchte mir neue Freunde, ließ mir den Nasenring schießen und erfuhr plötzlich, dass es auch noch andere Musik gibt als Klassik.«
Sid biss sich
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