Der Schatten des Schwans
»Für eine Therapie ist das, glaube ich, kein besonders guter Ansatz.« Sie sagte es zögernd, und plötzlich war ihre Stimme weg. »Bist du noch da?«, fragte Berndorf. »Aber sicher. Oder hörst du andere Stimmen?«, meldete sich Barbara zurück. »Weißt du, was mir auffällt? Du hast gerade ziemlich viel mit Pharmazeutik am Hals. Erst der arme Mensch aus Görlitz, und jetzt dieser da mit seinem Rasiermesser. Was die Leute an Pillen schlucken, geht offenbar auf keine Kuhhaut. Ich seh’ das hier auf dem Campus jeden Tag. Alle wollen sie smilys sein. Das ist unsere schöne neue Welt.«
»Ja, brave new world, und die ist nicht erst von heute. Ich les’ Dir aus einem zweiten Brief vor. Thalmann hat ihn an einen Göttinger Medizinhistoriker gerichtet. Da schreibt er, er wolle herausfinden – ich zitiere –, ›ob bei den nationalsozialistischen Menschenversuchen in den Konzentrationslagern auch Psychopharmaka erprobt worden sind‹. Zitat Ende. Und ein paar Wochen später hat er bei der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Straftaten eine förmliche Strafanzeige erstattet. Und zwar gegen mehrere Pharma-Firmen. Es sind große Namen darunter. In der Anzeige wirft er ihnen vor, sie hätten Medikamente auf den Markt gebracht, die in den Konzentrationslagern erprobt worden sind. An Versuchspersonen, die dabei gestorben sind oder die man danach ermordet hat.«
»Und?« Barbaras Stimme klang gespannt.
»Nichts«, sagte Berndorf. »Der Göttinger Historiker hat höflich geantwortet, er habe den Brief mit Interesse gelesen, aber seines Wissens habe die pharmakologische Forschung vor 1945 andere Schwerpunkte gehabt, als Thalmann vermute. Und Ludwigsburg bestätigte zwar den Eingang der Anzeige. Einige Monate später hat dann aber ein Sachbearbeiter zurückgeschrieben, Thalmann möge doch bitte benennen, welche Verantwortlichen der von ihm genannten Firmen konkret welche Versuche veranlasst hätten.«
»Und das konnte er nicht?«
»Nein, das konnte er wohl nicht«, bestätigte Berndorf. »Es ist nicht so einfach, so etwas zu recherchieren. Vor allem nicht, wenn einer als verurteilter Mörder im Knast sitzt.«
Barbara schwieg. »Du klingst müde«, meinte sie dann.
»Es geht«, antwortete Berndorf. Er fühlte sich nicht wirklich müde. Er fühlte sich allein. Er blickte auf die glatte Kunststoffhaut der Sprechmuschel und sagte nach kurzem Zögern: »Kastner hat vorgeschlagen, wir sollten uns für das Guinness-Buch der Rekorde melden.«
»Oh!«, kam es über den Großen Teich. »Wie darf ich das verstehen?«
»Ich nehme an, er meint: unter Ferne Liebende, Langzeitrekord.«
Er hörte Barbara kurz durchatmen: »Häng endlich deinen Job an den Nagel«, sagte sie dann entschlossen. »Nimm deine Polizeimarke und schick sie diesen engen, beschränkten Männern in Stuttgart zurück. Und komm nach Berlin.«
»Willst du wirklich? Ich bin kein guter Hausmann. Und eine Detektei in Kreuzberg oder Neukölln: Berndorf, Nachforschungen, Hinterhaus, III. Etage? Das wäre doch gewöhnungsbedürftig. Ich überleg’s mir.«
»Das sagst du immer.« Barbaras Stimme klang entfernt.
Donnerstag, 29. Januar, 23 Uhr
Wasmer stand am Fenster im Aufenthaltsraum der Bahnhofswache. Sie lag im linken Flügel des Bahnhofsgebäudes. Missmutig starrte er auf den Bahnsteig unter ihm. Er hatte bei der Fahrdienstleitung veranlasst, dass der Fernschnellzug Warschau-Prag-Nürnberg-Stuttgart heute Abend hier ankommen würde. Aber der Zug hatte eine gute halbe Stunde Verspätung.
Im Stuttgarter Hauptbahnhof war es still geworden. Ab und zu huschten schattenhafte Gestalten durch das Neonlicht. Wasmer nahm einen Schluck aus der Cola-Dose, die er vor einer Viertelstunde aus dem Automaten gezogen hatte, und verzog angewidert das Gesicht. Irgendjemand kicherte. Wasmer drehte sich um. Auf dem kleinen flimmernden Fernseher war einer der Sportkanäle eingeschaltet. Muskelmänner, die als Tarzans kostümiert waren, purzelten durch ein Ringgeviert. Unter dem Deckenlicht dösten zwei Männer in grünen Uniformen. Es waren Hundeführer, und ihre Schäferhunde lagen ausgestreckt zu ihren Füßen, die Köpfe mit den langen Schnauzen auf ihren Pfoten. Sie schliefen nicht, sondern behielten ihre Umgebung wach und misstrauisch im Blick.
In einer Ecke saßen drei Männer in Zivil. Es waren die Fachleute, die Wasmer vom Grenzübergang Weil am Rhein angefordert hatte. Sie hatten Messgeräte mitgebracht, die den Anteil des Kohlendioxyds in der Raumluft
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