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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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um 19 Uhr, mit Beginn der ZDF-Nachrichten, schlug die Türklingel an. Halberg schaltete den Fernseher aus und schob die Holzverkleidung des Wandregals vor den Bildschirm.
Dann ging er zur Tür. Der Besucher war mittelgroß und trug einen Hut und einen billigen Wintermantel.
    »Herr Andres?«, fragte Halberg und ließ den Besucher eintreten. Der Mann schwieg. Vor der Garderobe blieb er stehen und hängte seinen Hut auf. Dann drehte er sich um und griff Halberg mit einer raschen Bewegung an den Hals. Halberg spürte, wie etwas an seiner Kehle lag. Es fühlte sich kühl an, glatt und scharf. »Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte der Mann. »Schreien Sie nicht. Tun Sie, was ich Ihnen sage.«
    Erst jetzt erkannte ihn Halberg.
     
    Ein Mensch hinter Gittern hat es nicht leicht, Gehör zu finden. Immerhin hatten einige der Angeschriebenen geantwortet, und einzelne hatten Thalmann sogar den einen oder anderen Aufsatz zur Problematik von Psychopharmaka zukommen lassen. Aus dem sich unmerklich ändernden Ton der Antwortbriefe schloss Berndorf, dass in den letzten Jahren die Bereitschaft zugenommen hatte, problematische Nebenwirkungen mancher Medikamente jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen. An Thalmann selbst und seiner Geschichte zeigte sich niemand interessiert.
    Berndorf legte die Kopien beiseite. Der Tee war kalt geworden. Sie haben ihn sich selbst überlassen, dachte er. Wir sperren die Leute weg, sollen sie selbst sehen, wie sie aus ihrem Hass, ihrer Schuld und dem Gespinst ihrer Rechtfertigungsversuche wieder herauskommen.
    Er stand auf und griff wieder nach den Montaigne-Essais. Nach kurzem Suchen fand er im Kapitel »Von der Reue« den Absatz, an den er gestern geraten war.
    »Nur du selber weißt, ob du feige und grausam bist oder pflichtgetreu und gottesfürchtig; die andern haben kein wirkliches Bild von dir, sondern suchen sich anhand ungewisser Mutmaßungen eins zu machen. Sie sehen weniger, wie du bist, als wie du dich gibst. Halte dich darum nicht an ihr Urteil, halt dich an das deine.«

    Auf das Urteil Thalmanns, dachte Berndorf, wird sich niemand verlassen wollen. Nur war damit die Frage nicht beantwortet, ob seine Vorwürfe wirklich so »absurd und abstrus« waren, wie der Anstaltspsychologe Krummsiek gemeint hatte. Gut möglich, dachte Berndorf, dass das Urteil des Anstaltspsychologen auch nur eine der Mutmaßungen war, von denen Montaigne gesprochen hatte.
    Berndorf griff nach seinem Telefon und wählte Kovacz’ Nummer. Vielleicht würde der Gerichtsmediziner ihm sagen können, was er von den Briefen aus dem Mariazeller Knast halten solle. Aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter.
    Er legte auf. Thalmanns Korrespondenz hatte ihn müde gemacht. Vielleicht würde Montaigne ihm den Kopf lüften. Doch der kam von der Reue auf die späte Tugendhaftigkeit im Alter zu sprechen: »Jener Mann, der in der Antike sagte, er sei den Jahren dankbar, dass sie ihn von der Wollust befreit hätten, war andrer Auffassung als ich. Niemals werde ich der Impotenz Dank wissen, und wenn sie mir noch so gut bekäme.« Ich auch nicht, dachte Berndorf.
    Summend meldete sich das Telefon neben ihm. Berndorfs Herz begann, schneller zu schlagen. Er nahm den Hörer ab.
    »Du hast deinen Mörder also doch noch nicht«, sagte die klare helle Stimme.
    »Es sind mindestens zwei«, antwortete Berndorf. »Woher weißt du?«
    »Du wärst sonst im Präsidium. Oder heißt es Direktion?« Barbara klang vergnügt. Berndorf fühlte sich, als hätte ein Luftzug seine trüben Gedanken weggeblasen. »Und du würdest dir und deinem Mörder Bier und Schinkensandwiches bringen lassen, stell’ ich mir vor.«
    »Du verwechselst mich mit Maigret«, sagte Berndorf. »Zu viel der Ehre. Bei uns gibt es leider nur Kaffee und Fleischbrühe. Aus dem Automaten.« Trotz ihrem Protest bestand er auf einem Rückruf. Er musste ihr von Thalmann, dem Ausbrecher in der Sitztruhe erzählen. Es wurde ein längerer Bericht.

    »Das mit der Mooreiche glaubt dir kein Mensch«, sagte Barbara entschieden.
    »Ich kann es nicht ändern«, antwortete er ergeben. »Übrigens hat der Fall ein paar Details, die nicht mehr so komisch sind.« Er suchte den Brief heraus, den Thalmann an die Tübinger Arbeitsgemeinschaft geschrieben hatte, und las ihn ihr vor. »Nein«, sagte Barbara, »der Fall ist wirklich nicht komisch. Wen hat er alles umgebracht?« Berndorf fasste kurz zusammen.
    »Und heute sieht er sich selbst als einen Fremden, der das getan hat«, stellte sie fest.

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