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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Puchner begrüßten sich; verblüfft stellte Tamar fest, dass die beiden Männer sich duzten. Felleisen stellte Tamar vor: »Eine Kollegin vom Morddezernat«, fügte er hinzu, und Puchner reichte ihr eine weiche ausdruckslose Hand. Dann setzten sie sich an den ovalen Tisch. Die grauhaarige Frau brachte auf einem Silbertablett eine Flasche aus Kristallglas. Daneben standen kleine Schnapsgläser. »Ein Enzian«, erklärte der Kapo. »So einen kriegen Sie hier gar nicht. Wir haben ihn aus Tirol mitgebracht.«
    Tamar lehnte dankend ab und bat um ein Glas Mineralwasser. Die Grauhaarige ging es holen.
    »Wir suchen Leute, die mit K.-o.-Tropfen arbeiten«, sagte Felleisen schließlich, als sie sich zugetrunken hatten. »Die Kollegin hat einen Toten. Er könnte zu viel abbekommen haben.«
    Puchner starrte durch seine halbkugelgroßen Brillengläser auf Tamar. »Diese Tropfen sind eine üble Sache. Aber wir
dulden das nicht. Sie sehen ja selbst: es bringt nur Ärger mit der Polizei.« Er schien zu überlegen. Dann wandte er sich an Felleisen: »Du kennst diese Discothek im Industriegebiet, beim Magirus.« Felleisen nickte. »Da lässt einer, der neu im Geschäft ist, Halbwüchsige für sich anschaffen. Das Bürschle ist einer von den Discjockeys dort. Einer, der selbst so viel schluckt, dass er immer eine halbe Apotheke bei sich hat.«
    »Der Tote, um den es geht, wird kaum in eine Discothek gegangen sein«, wandte Tamar ein. »Er wäre auch nicht hineingekommen.«
    »Die Zeiten haben sich schon wieder geändert«, sagte Puchner. »Die Taxifahrer wissen Bescheid und sagen den Kunden das Kennwort für den Türsteher.«
    »Und warum haben wir noch nicht davon gehört?«, fragte Felleisen tadelnd.
    Puchner schüttelte den Kopf. »Du solltest öfters einen Enzian mit mir trinken. Außerdem hab’ ich dir doch gesagt, dass die Mädchen halbwüchsig sind. Kein Freier geht da zur Polizei.« Felleisen war nicht zufrieden. »Wenn ich das richtig verstehe, zahlen die Leute da draußen ihren Beitrag nicht. Und deshalb sollen wir den Laden aufmischen.«
    Der Kapo zuckte mit den Achseln. »Ich hab’ mir gedacht, euch ist’s lieber, wenn ihr selbst nach dem Rechten schaut. Wenn wir’s machen, wird es vielleicht ein bissle grob. Die Leut’ sind heut ja so zartfühlend. Vor allem bei Kindern.« Er nahm einen vorsichtigen Schluck aus dem Schnapsglas. »Da ist noch etwas«, sagte er dann. »Ich will doch nichts von euch. Sondern ihr etwas von mir.« Tamar und Felleisen wechselten einen Blick. »Vielleicht hast du Recht«, sagte Felleisen.
    »Aber wenn wir dir schon den Gefallen tun und die Leute ausheben, die nicht an euch zahlen, dann sag mir bitte auch, wer sonst mit solchem Zeugs zugange ist.«
    »Zwei Polinnen«, sagte Puchner. »Im Kiosk am Busbahnhof.«

     
    Der erste Brief, den Krummsiek für Berndorf kopiert hatte, stammte vom Oktober 1987. Thalmann hatte damals an eine Tübinger Arbeitsgemeinschaft geschrieben, die Opfer von ärztlichen Kunstfehlern beriet. »Ich bin Strafgefangener«, hieß es in dem Schreiben. »Verurteilt hat man mich wegen Mordes. Bis heute versuche ich zu begreifen, was zur Tatzeit vorgefallen ist. Aber es gelingt mir nicht. An einzelne Vorgänge kann ich mich zwar erinnern. Aber ich habe keine Empfindung dabei. Diese Ereignisse sind wie durch eine Glasscheibe von mir getrennt.«
    Thalmann bat dann um Auskunft, ob diese Art der Erinnerung damit zu tun haben könnte, dass er damals unter dem Einfluss von Medikamenten gestanden habe; wegen seiner Depressionen habe er Sansopan in hoher Dosierung genommen.
    Einige Wochen später hatte ein Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft  – die Unterschrift war unleserlich – den Eingang des Schreibens bestätigt und darauf verwiesen, dass es in Thalmanns Anfrage offenkundig um das Problem seiner damaligen Schuldfähigkeit gehe. Leider dürfe die Arbeitsgemeinschaft aber keine Rechtsauskünfte erteilen und müsse Thalmann deshalb bitten, sich in der Frage eines Wiederaufnahmeverfahrens an einen zugelassenen Anwalt zu wenden. In den folgenden Monaten und Jahren schrieb Thalmann an zahlreiche medizinische Forschungsinstitute, immer wieder mit der Bitte um Auskunft über mögliche persönlichkeitsverändernde Auswirkungen bestimmter Psychopharmaka, und zwar nicht nur von Sansopan, sondern allgemein von stimmungsaufhellenden Medikamenten. Die Briefe waren sehr höflich gehalten, und zu Beginn wies Thalmann jedesmal darauf hin, dass er selbst Betroffener sei.
     
    Pünktlich

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