Der Schatten des Schwans
tüchtigen EDV-Fachmann, der so gewandt mit dem Rasiermesser umgehen konnte.
Stopp, dachte Berndorf plötzlich. Über Thalmann können wir etwas wissen. Zum Beispiel, dass er nicht mehr in Frankfurt ist.
Am Abend hatte Kastner noch im Neuen Bau angerufen und Einzelheiten von Zürns Geständnis durchgegeben. Für Thalmann seien mehrere zehntausend Mark auf das Anderkonto eines Frankfurter Anwalts überwiesen worden, hatte Zürn angegeben. Der Anwalt schwieg, aber die Frankfurter Kollegen hatten bereits herausgefunden, dass das Konto vor zwei Tagen abgeräumt worden war. Thalmann war also bis Frankfurt gekommen und verfügte inzwischen über einiges Geld. Aber bei der Geldübergabe mussten andere Leute beteiligt gewesen sein, vielleicht ein Bankangestellter oder die Sekretärin des Anwalts. Irgendwer würde der Polizei einen Tipp geben können. Oder den Leuten im Milieu, die nur zu gerne einem entsprungenen Knacki das Geld tragen helfen. Thalmann würde es nicht darauf ankommen lassen, dass in den Frankfurter Zeitungen ein Fahndungsaufruf erschien.
Aber auch Ulm war zu gefährlich für ihn. Zu viele kannten ihn von früher, und jedermann hier hatte von seiner Flucht und ihren Umständen gehört oder würde morgen davon lesen. Nicht Frankfurt, nicht Ulm. Also Stuttgart, dachte er sich dann. In Stuttgart lebt Thalmanns Tochter, von Frankfurt aus ist er mit dem ICE in zwei Stunden dort. Und in einer Stunde ist er von Stuttgart aus in Ulm, wenn er in Ulm noch etwas zu tun vorhat.
Tamar sollte noch einmal mit den Stuttgarter Kollegen reden. Sie sollten sich in kleinen Pensionen umsehen, in den
Hotels garni, überall dort, wo kleine Geschäftsreisende und Monteure abstiegen. Leute also, unter denen der EDV-Controller einer Schreinerei nicht weiter auffallen würde.
Berndorf klappte das Taschenbuch zu, goss sich neuen Tee ein und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er sah die Kopien durch, die ihm Krummsiek von Thalmanns Korrespondenz gegeben hatte. Sofort erkannte er Thalmanns kleine und sehr akkurate Schrift. So hatte er auch aus der U-Haft an seine Tochter geschrieben; die Briefe waren damals sämtlich sichergestellt worden.
Der Kapo wohnte in Donaustetten, einem Ulmer Vorort auf der anderen Seite des Flusses. Als sie über die Adenauerbrücke fuhren, wurde der Nebel noch dichter.
»Was sollte ich über den Mann wissen, zu dem wir fahren?« , fragte Tamar.
»Er heißt Puchner. Erwin Puchner. Aber man kennt ihn nur als Kapo«, antwortete Felleisen. »Er war früher Pächter des ›König Karl‹. Jetzt hat er sich zur Ruhe gesetzt. Offiziell wenigstens.« Das ›König Karl‹ war ein Bordell am Rande der Altstadt.
»Er sieht aus wie ein pensionierter Sparkassenbuchhalter«, fuhr Felleisen fort. »Aber bisher hat er die Sache immer in der Hand behalten. Sogar die türkische Mafia respektiert ihn.«
Sie fuhren über eine Waldstraße, von kahlen Bäumen gesäumt. Dann trat der Wald zurück und sie kamen in ein Wohngebiet mit neuen Einfamilienhäusern, denen die Bauaufsicht allerhand vorspringende Erker und Balkone erlaubt hatte. Im Nebel sahen sie noch unwirklicher aus als sonst. Felleisen bog nach links ab und hielt vor einem eher unauffälligen Haus, mit einem Vorgarten, der von einem Jägerzaun eingegrenzt war. Felleisen ging durch das Gartentor, Tamar folgte ihm. An der Haustür öffnete ihm eine kleine grauhaarige Frau mit einem Dutt. »Kommen Sie nur herein«, sagte sie, »mein Mann wartet schon auf Sie.«
Das Haus wirkte auch innen unauffällig und kleinbürgerlich, mit Spitzenvorhängen an den Wänden und Häkeldecken auf den Möbeln, die auf den ersten Blick nach Gelsenkirchner Barock aussahen. Als sie der grauhaarigen Frau ihren Mantel gab, fiel Tamars Blick auf eine Pieta neben dem Garderobenspiegel. Es war eine bemalte Holzplastik, und unvermittelt sprang ihr der Ausdruck von Schmerz und Verzweiflung in die Augen. Erst dann wurde ihr klar, dass das ganze Haus mit echten Antiquitäten voll gestellt war. Mein Gott, was werden die auf dem Klo haben, dachte sie.
Sie folgte Felleisen in ein Wohnzimmer, das sie ein wenig an das ihrer Großeltern erinnerte. An einem ovalen Tisch mit holzgeschnitzten Stühlen stand ein grauhaariger Mann. Er war weniger als mittelgroß, trug eine Strickweste und eine Brille mit stark gewölbten Gläsern.
»Je später der Abend ...!«, sagte er, und seine Stimme hatte jenen Klang falscher Jovialität, an dem Tamar das Stuttgarter Schwäbisch erkannte. Felleisen und
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