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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Gott nein«, antwortete Tamar, »ich hab mir gestern die halbe Nacht um die Ohren gehauen, damit wir in dem Fall mit dem Steinbruch endlich weiterkommen, und in der Zwischenzeit hat der entsprungene Häftling einem alten Anwalt
die Gurgel durchgeschnitten, und jetzt sind wir schuld, weil wir den Häftling nicht geschnappt haben! Aber Probleme haben wir nicht, nein, an irgendetwas müssen die Leute ja sterben.«
    Über die Fahrt nach Stuttgart morgen konnte sie mit Burgmair nicht reden. Er würde nicht verstehen, was das Problem war. Wusste sie es denn selbst?
    Dann fiel ihr ein, was Berndorf über den Medikamententick Thalmanns erzählt hatte.
    »Sag mal«, sagte sie, »was weißt du von Psychopharmaka? Gibt es da Nebenwirkungen, die totgeschwiegen werden?«
    Burgmair schmeckte unbehaglich die Sauce nach. Er war Internist, kein Gehirnklempner. »Nebenwirkungen kann es immer geben. Ist auch eine Frage der Dosierung.«
    »Kennst du wenigstens jemand, der darüber Bescheid weiß und nicht nur daherredet?«, beharrte Tamar. »Vielleicht eine Arbeitsgemeinschaft kritischer Ärzte? So etwas gibt es sogar bei uns.«
    »Kritische Ärzte bei der Polizei?«
    »Ach was. Kritische Polizisten.«
    »Ich weiß nicht, ob du dich bei deinen Oberen mit so etwas beliebt machst«, sagte Burgmair und entschied, dass er das nächste Mal das Fleisch kürzer anbraten werde.
     
    Achtzig Kilometer oder ein paar mehr von Ulm entfernt, ließ sich in diesen Minuten ein Mann in einem dicht besetzten billigen italienischen Restaurant die Rechnung bringen. Dann trank er sein Bier aus und ging. Er wandte sich zu Fuß dem Bahnhof zu.
    Vor einer Telefonzelle zögerte er einen Augenblick. Aber er durfte Hannah nicht anrufen. Nicht jetzt schon. Mit Sicherheit würde ihr Apparat abgehört. Dabei würde sie ihn verstehen. Auch die Sache mit dem Anwalt Halberg. Dem Anwalt, der ihn hätte verteidigen sollen. Dem er vertraut und dem er erzählt hatte, was mit ihm geschehen war. Und der ihn doch
nur vor aller Öffentlichkeit, vor allen Menschen bloßgestellt hatte, lächerlich gemacht als jemanden, der krank sei vor Geltungstrieb.
    Hannah würde es verstehen. Dass alles eine Verschwörung gewesen war, um das Glück einer kleinen Familie zu zerstören. Deswegen hatten sie ihm die Tabletten gegeben. Hatten ihm den heimtückischen Nichtskönner vorgesetzt. Hatten seine Frau dazu gebracht, ihn zu verlassen. Mit dummen hässlichen Einflüsterungen. Und am Ende hatten sie es alle auf die Lüge geschoben, dass er krank sei. Das war er nicht. Er blickte den Dingen auf den Grund.
    Und auch der Anwalt hätte nicht sterben müssen. Er hätte ihm nur zu sagen brauchen, wer ihn bezahlt hatte. Wer ihm das schmutzige Geld gegeben hatte, um ihn vor Gericht als kranken Menschen zu verhöhnen. Um zu vertuschen, was mit den Tabletten gewesen war. Dass man ihn vergiftet hatte. Dass alles hatte vertuscht werden müssen, weil sonst ein gigantisches Komplott der Pharmaindustrie aufgedeckt worden wäre. Aber der Anwalt hatte ihm nicht die Wahrheit sagen wollen. Seine Lügen waren sein Todesurteil. Hannah würde das verstehen. Sie würde verstehen, dass er nicht aufgeben durfte. Bis die anderen keine Wahl mehr hatten, als die Wahrheit einzugestehen.
    Fünfzig Meter vor der Pension, die in einer Seitenstraße lag, fiel ihm ein am Fahrbahnrand abgestellter Streifenwagen auf. Mit ruhigen und gleichgültigen Schritten ging er weiter, am Zugang zu der Pension vorbei, und überquerte den Bahnhofsplatz. In drei Minuten würde eine S-Bahn nach Stuttgart abfahren. Am Automaten löste er ein Fahrkarte.
     
    Sie könne sich ja irren, sagte die Pensionswirtin den beiden Polizisten: »Wir haben einen Gast, der so ähnlich aussieht. Es könnte der Herr auf Zimmer 8 sein. Moment, der Herr Meiner ist das. Er ist gestern gekommen. Aber er ist nicht da. Er ist in die Stadt gegangen.«

Samstag, 31. Januar
    »Er war es wirklich«, sagte Berndorf und betrachtete den Vuitton-Koffer: »Den hat er noch von Tettnang. Offenbar war ihm nicht klar, dass kein Handelsvertreter und kein Monteur so ein Ding haben würde.« Sie standen zusammen in dem winzigen Einzelzimmer, Tamar und er, argwöhnisch von der Pensionswirtin an der Tür beobachtet. Viele Habseligkeiten hatte Meiner alias Thalmann nicht besessen, drei Hemden, zwei Pullover, etwas Unterwäsche, einen Kulturbeutel, es sah alles neu aus und nach Kaufhausware. Interessiert betrachtete er den Lederriemen: »Man schärft damit das Rasiermesser«, erklärte

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