Der Schatten des Schwans
nicht.«
»Sie sagten, Ihr Vater sei bei Kursk vermisst worden. Die Kämpfe am Kursker Bogen waren im Juli 1943. Ihr Bruder ist 1945 geboren«, erklärte Berndorf.
Die Frau setzte die Tasse ab. »Ja. Sicher. Es ist auch nichts dabei. Er war trotzdem mein Bruder. Meine Mutter hat mir nie etwas davon erzählt. Ich weiß es von meiner Tante, ihrer Schwester.
Die hat es mir vor ein paar Jahren gesagt, inzwischen ist sie auch schon tot.«
Sie stand auf und ging zum Küchenbüfett. Mit einer Schachtel Zigaretten kam sie zurück und bot Berndorf eine an. Der lehnte ab, aber er gab ihr Feuer. »Er muss fast ebenso jung gewesen sein wie meine Mutter. Er war auf Heimaturlaub und musste im Lazarett wegen der Malaria behandelt werden, die er sich in Nordafrika geholt hatte. Meine Mutter war Krankenschwester im Lazarett. Zwei junge Menschen. Was hat meine Mutter bis dahin schon gehabt im Leben. Passiert ist es dann wohl auf einem Sommerfest im Pückler-Park.«
»Pückler-Park?«, fragte Berndorf.
»Warum nicht?«, sagte die Frau. »Der junge Mann war hier aus der Gegend. Deswegen kam er ja im Heimaturlaub nach Muskau. Und da haben sie sich dann kennen gelernt. Was heißt kennen gelernt! Er hat sich nie wieder gemeldet. Vielleicht ist er ja auch gefallen.«
Berndorf hörte nicht mehr zu. In seinem Kopf drehten sich ein oder zwei Dinge.
Aber klar doch, dachte er dann. Fürst Pückler-Muskau, der berühmte Gartenarchitekt, hatte die erste seiner Liebhaber-Anlagen in Muskau errichtet, und dieses Muskau lag hier irgendwo in der Lausitz, unweit von Görlitz, und selbstverständlich nicht in Schleswig-Holstein. Wieso nur und in welchem Zusammenhang war er auf den Gedanken gekommen, Muskau für ein norddeutsches Bad zu halten? Es musste in einem Gespräch gewesen sein, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern.
»Sie wissen nicht, wie der junge Mann hieß?«
»Nein«, sagte Rosemarie Kautkus, »die Tante wusste den
Namen nicht, oder nicht mehr. Ich glaube auch nicht, dass ich sie danach gefragt habe. Es hatte auch keine Bedeutung. Wir hatten schon einen Mann in der Familie, von dem nur die Erinnerung geblieben war. Oder nicht einmal die.«
So besonders gefallen hat es der Tochter wohl doch nicht, dass sich die Mutter von einem anderen Mann hatte ein Kind machen lassen, dachte Berndorf. »Wusste Ihr Bruder davon?«
»Ja doch«, sagte die Frau. »Er hat sich das genauso ausgerechnet, wie Sie das getan haben. Militärgeschichte ist eines von seinen Hobbys gewesen. Er hat mich kurz nach ihrem Tod danach gefragt, und ich habe ihm erzählt, was ich Ihnen auch gesagt habe.«
Berndorf wollte wissen, ob es sonst noch jemanden gebe, der über die Beziehung der beiden jungen Leute im Sommer 1944 Auskunft geben könnte. »Und der Ihrem Bruder vielleicht sagen konnte, wer sein Vater gewesen ist.«
»Ich glaube, dass das gar nicht notwendig war«, meinte Rosemarie Kautkus. »Als die Mutter ging, haben wir ein versiegeltes Paket gefunden. Ich denke, dass Briefe drin waren. Es stand nur drauf, dass Heinz es aufbewahren solle.«
Die Briefe waren also von jemand, der die Tochter nichts anging, dachte Berndorf. Aber den Sohn gingen sie etwas an. »Bei diesem Gespräch damals wusste Heinz also schon Bescheid?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.« Die Frau klang verärgert.
»Sie wissen doch auch, was ich meine«, sagte Berndorf. »Als Ihr Bruder sie nach der Geschichte gefragt hat, muss er die Briefe bereits gelesen haben. Und wenn er das getan hat, hat er auch gewusst, wer sein Vater war. Warum hat er Ihnen da den Namen nicht genannt?«
Rosemarie Kautkus blickte verlegen. »Heinz hat nie viel von sich erzählt. Und wenn er etwas erzählt hat, musste es die ganze Geschichte sein. Ich denke, dass er erst wissen
wollte, wer sein Vater war. Und warum er sich nach dem Krieg nicht gemeldet hat.«
Das Abend-Flugzeug nach Stuttgart war voll besetzt. Beim Einsteigen hatte sich ein stiernackiger Mann in einem Pelzmantel vor Berndorf gedrängt. Der Mann schleppte zwei Aktenkoffer und mehrere Einkaufstaschen mit sich, die er samt Pelzmantel hastig über die Gepäckablage verteilte.
Berndorf kam hinter ihm zu sitzen. Er verstaute seine Tasche unter dem Sitz und nahm wieder den Montaigne-Band vor. Der Stiernackige beugte den Kopf zu seinem Nebenmann und begann, auf ihn einzureden. Der Kopf war rosafarben und von einem weißblonden Borstenkranz umstanden. Das Gespräch drehte sich um ein Golf- und Freizeitzentrum und die
Weitere Kostenlose Bücher