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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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herzurichten. Was für ein stiller und angenehmer Mieter dieser Herr Ullmer doch war, dachte sich die Witwe. Sie war gerade dabei, ihnen einen koffeinfreien Kaffee aufzugießen, denn anderen vertrug sie nicht. Was für ein Glück war es doch, dass sie den Werkzeugkasten ihres verstorbenen Mannes nicht weggegeben hatte! Dann fiel ihr ein, dass der Mieter vom großen Zimmer, der Herr Rabenicht, schon die ganze Zeit über einen klapprigen Beistelltisch klagte.
    »Wissen Sie«, sagte sie und stellte das Tablett mit dem Kaffee
und den Kokosplätzchen auf das Büfett, »der Herr Rabenicht hat da seinen Internet-Computer und seine Kassetten drauf, oder sagt man Disketten dazu? Und ob Sie vielleicht bei ihm auch noch nach dem Rechten sehen könnten? Es ist ja so ein Glück, dass wieder ein Mann im Haus ist, der einen Nagel gerade in die Wand schlagen kann.«
     
    Im Lagezentrum im Ulmer Neuen Bau ordnete Kriminaldirektor Steinbronner an, die Ringfahndung nach Thalmann auf den gesamten Bereich zwischen Stuttgart und Ulm auszudehnen.

Mittwoch, 4. Februar, 14.30 Uhr
    Es war wieder kälter geworden. Berndorf hatte seinen Wagen in einem Parkhaus in der Tübinger Südstadt abgestellt und ging zu Fuß über die Neckarbrücke in die Altstadt. Nach der Brücke schlug er den Uferweg ein, der zum Hölderlinturm führte, und er warf einen Blick auf den Fluss. Zwei Schwäne äugten verdrossen in das grünlich tümpelnde Wasser.
    Vor dem Hölderlinturm wandte er sich nach rechts und ging über eine steile, kopfsteingepflasterte Gasse den Schlossberg empor.
    Sturzeneggers Institut für Zeitgeschichtliche Feldforschung war in einem dem Schloss vorgelagerten Turm untergebracht; Barbara hatte ihm den Weg beschrieben. Die Gassen waren leer. Ab und an eilte eine Studentin an ihm vorbei. Vor dem Schlossportal kam ihm eine Gruppe Japaner entgegen. Er durchquerte den Schlosshof, stieg eine Treppe hoch und ging durch einen Durchgang auf eine hoch über dem Neckartal gelegene Terrasse. An ihrem westlichen Ende erhob sich das Dachgeschoss eines Rundturms, flach und kegelförmig. Die Ziegel sahen verwittert aus, und die Tür, die in den Turm führte, war so niedrig, dass Berndorf den Kopf
einzog. Ein Gefühl der Unwirklichkeit beschlich ihn, so, als habe er sich in ein Spitzweg-Bild verirrt.
    Die Wände im Eingangsgeschoss waren mit Vorlesungs-und Vortragsankündigungen voll gehängt. In einem Schaukasten lagen Veröffentlichungen aus dem Institut aus, darunter ein großformatiger Band über den Nationalsozialismus im Landkreis Tübingen. Berndorf folgte einem Wegweiser, der ihn eine Etage tiefer zu dem Büro von Sturzenegger führte. An der Eingangstür zum Sekretariat hing ein Plakat mit einem Brecht-Zitat: »Unordnung ist, wo nichts am rechten Platz ist. Ordnung ist, wo am rechten Platz nichts ist.«
    Berndorf klopfte, aber es antwortete niemand. Schließlich trat er ein. Das Zimmer war leer, ebenso der angrenzende Raum. Das Licht des trüben Tages kam durch Fenster so schmal wie Schießscharten. Auf den Schreibtischen, den Regalen und selbst den Stühlen stapelten sich Zeitschriften, Manuskripte und Bücher.
    Ein Mann um die Sechzig mit widerspenstig hoch stehenden grauen Haaren kam in das Zimmer und machte sich an einem Kopierer zu schaffen. Offenbar wollte das Gerät nicht funktionieren. Nach einiger Zeit nahm er Berndorf wahr.
    »Es ist niemand da«, sagte er. »Ich weiß auch nicht, wo sie alle sind.«
    Der Mann kam Berndorf bekannt vor. Er hatte ihn schon im Fernsehen gesehen oder auf einem Zeitungsbild. »Professor Sturzenegger?«, fragte er und stellte sich vor. »Sie hatten mir freundlicherweise einen Gesprächstermin gegeben. Wenn ich mich nicht irre, wollten Sie jetzt mit mir reden.«
    »Ach ja«, sagte Sturzenegger. »Entschuldigen Sie. Ich bin ja da.« Und er bat Berndorf in das angrenzende Zimmer. Vom Besucherstuhl nahm er einen Stapel Bücher und stellte ihn auf dem Fußboden ab. Dabei hielt er das Manuskript unter den Arm geklemmt, das er vorhin zu kopieren versucht hatte. Dann nahm er das Manuskript in die Hand und blickte suchend um sich. Schließlich legte er es auf den Bücherstapel.
Unwillkürlich warf Berndorf einen Blick darauf. Der maschinengeschriebene Titel hieß »Ein Versuch über die Vergeblichkeit«.
    »Ich weiß jetzt wieder«, sagte Sturzenegger und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Meine alte Freundin Barbara Stein hat Sie mir empfohlen. Was treibt sie denn so? Ist sie noch immer mit diesem Polizisten

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