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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Frankreichfeldzugs« stattgefunden, vermerkte der Bildtext. Keines der Bilder zeigte Remsheimer oder einen seiner Assistenten.
     
    Es war später Nachmittag geworden. Auf der Schnellstraße zwischen der Autobahn und Stuttgart-Degerloch ließ eine Standkontrolle der Polizei den abendlichen Berufsverkehr zusammenbrechen. Binnen zwanzig Minuten waren auch die Kreuzungen in der Stuttgarter Innenstadt blockiert.
     
    In der Wohnung in Berlin-Neukölln aßen die Witwe Schubbach und der Herr Ullmer, der so geschickt mit dem Werkzeug ihres Verstorbenen umgehen konnte, gemeinsam zu Abend. Magda Schubbach hatte eigens noch beim Metzger mageren gekochten Schinken besorgt. Er durfte nicht fett sein, denn der Herr Ullmer hatte es auf dem Magen. Später am Abend konnte ein Gläschen Wein nicht schaden. Im Kamin brannte das elektrische Feuer.

     
    Im Lesesaal des Instituts für Zeitgeschichtliche Feldforschung hatte Berndorf die Stehlampe auf seinem Arbeitstisch angeknipst. Zwei Tische weiter arbeitete ein junger Mann mit einem Mozartzopf. Sonst waren sie allein.
    Berndorf hatte eine annähernd chronologische Ordnung in die Bilder gebracht. Vor ihm lag ein Stapel mit Aufnahmen aus der zweiten Jahreshälfte 1944. Vereinzelt waren darunter Bilder von Männern in Wehrmachts- und SS-Uniformen zu sehen, die für den Führer gefallen waren. Berndorf lehnte sich zurück. Ihm tat der Rücken weh, und er hatte das Gefühl, seine Augen würden nichts mehr wahrnehmen.
    Die Fotografie, die vor ihm lag, zeigte drei Männer. Ausnahmsweise trugen sie keine Parteiuniformen, sondern weiße Laborkittel und standen vor einem Arbeitstisch mit Mikroskopen. Der vorderste von ihnen blickte in die Kamera hoch, während er aufgenommen wurde. Er war mittelgroß und trug eine Brille mit kreisrunden Gläsern. Sein schütteres Haar war gescheitelt, und sein Kinnbart sorgfältig gestutzt. Er war zum Zeitpunkt der Aufnahme ungefähr 60 Jahre alt und offenbar der Chef der Gruppe.
    Einer seiner Mitarbeiter, deutlich jünger und untersetzt, stand neben ihm. Er war dunkelhaarig und lächelte, offenbar über den Fotografen. Etwas abseits war noch ein dritter Mann. Er war schlank und hoch gewachsen, und es schien, als sehe er abweisend und ärgerlich zu dem Fotografen hin. Er war blond, und er konnte kaum älter sein als 30 Jahre. Genau sah man es nicht. Das Bild war ein Schnappschuss. Als der Fotograf auf den Auslöser gedrückt hatte, musste sich der blonde Mann leicht bewegt haben. Sein Gesicht war verwischt.
    Berndorf massierte sich die linke Schulter. Der Student zwei Tische weiter löschte seine Lampe und stand auf. »Und tschüs«, sagte er halblaut. »Wiederschau’ n«, sagte Berndorf. Dann drehte er die Fotografie um. Der Bildtext war auf löchriges vergilbtes Papier getippt.

    »Tübingen, 10. September 1944. Forschen für den Endsieg: Oberstarzt Prof. Dr. Hannsheinrich Remsheimer, mit besonderem Auftrag an die Universität Tübingen berufen, hat seine Arbeit bereits aufgenommen. Unsere Aufnahme zeigt ihn an seinem Arbeitsplatz mit seinen Mitarbeitern Dr. Luitbold Samnacher und Dr. Hendrik Hendriksen.«
     
    Bastian Burgmair schüttelte den Kopf. Den Löffel, mit dem er das Salat-Dressing hatte abschmecken wollen, hielt er noch immer in der Hand. Er wusste nicht, wo er ihn hinlegen sollte. Das Dressing wäre in Ordnung gewesen, dachte er. Vielleicht sollte er noch einen kleinen Löffel Senf dazugeben. Aber darum ging es jetzt nicht.
    »Ich hab’ keine Lust, dir alles fünfmal zu erklären«, sagte Tamar. Ihre Stimme klang leise und drohend. Aber warum nur, fragte sich Burgmair. Das Telefon schrillte. Tamar sah ihn an. Er hatte noch immer den Löffel in der Hand. Sie ging in die Diele und nahm den Hörer ab. Es war Berndorf.
    »Haben Sie das Foto aus Görlitz?«, fragte er ohne weitere Umstände.
    »Ja, ich hab’s hier«, antwortete Tamar. »Aber . . .«
    »Ich hol’ es morgen Abend bei Ihnen ab. Ich komme dann nur an die Tür und werde gleich wieder gehen. Noch etwas.« Tamar wollte ihn unterbrechen, aber Berndorf redete weiter. »Haben Sie herausgefunden, ob Seiffert noch lebt? Sie wissen, der Kollege, der 1960 in Christophsbrunn ermittelt hat.«
    »Ja, Chef«, sagte Tamar. »Sie finden ihn in Waldhülen. Das ist ein Dorf auf der Alb, irgendwo über dem Lautertal. Wenn Sie einen Augenblick warten, hole ich mein Notizbuch und gebe Ihnen die Nummer.«
    Das Notizbuch war in ihrer Tasche. »Hier ist es«, sagte sie, als sie den Hörer wieder aufnahm. »Es

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