Der Schatten des Schwans
zusammen?«
Berndorf schaute etwas ratlos.
»Ach Gott«, sagte Sturzenegger. »Sie sind das ja. Entschuldigen Sie. Sehr erfreut.«
Berndorf deutete eine knappe Verbeugung an. Nun aber ganz schnell zur Sache, dachte er. »Unter Leitung des Tübinger Universitätsprofessors Remsheimer haben in den letzten Kriegsmonaten in Christophsbrunn Versuche an französischen und russischen Kriegsgefangenen stattgefunden«, sagte er unvermittelt. »Ein früheres Ermittlungsverfahren ist eingestellt worden, weil die verantwortlichen Ärzte angeblich sämtlich verstorben sind. Ich glaube das nicht. Remsheimer mag tot sein. Bei seinen Oberärzten Samnacher und Hendriksen bin ich nicht ganz so sicher.« Während er sprach, versuchte er, Sturzeneggers Blick mit den Augen festzuhalten. »Ich brauche verwertbare Personenbeschreibungen, am besten Fotografien aus der damaligen Zeit. Vor allem von Hendriksen brauche ich das.«
»Ich weiß, wer Remsheimer war«, sagte Sturzenegger, plötzlich aufmerksam geworden. »Und Sie werden wissen, dass im Universitätsarchiv nichts von dem zu finden ist, was Sie suchen. Sie wären sonst nicht zu mir gekommen.« Er blickte sich suchend um. »Wussten Sie, dass Tübinger Nazi-Professoren noch 1947, aus dem Internierungslager heraus, Einfluss auf die Universität nehmen konnten? Lassen Sie also alle Hoffnung fahren.« Er stand auf. »Es sei denn . . .« Der Satz blieb unvollendet. Er ging an den überfüllten Regalen vorbei und schüttelte den Kopf. »Hier wohl eher nicht. Versuchen wir’s in der Bibliothek.«
Auch Berndorf war aufgestanden. Sie verließen Sturzeneggers Büro und gingen eine verwinkelte Treppe hinab. Durch einen Bibliotheksraum, in dem drei oder vier junge Leute schweigend lasen oder Notizen in ihre Laptops schrieben, kamen sie in einen mit Regalen voll gestellten Nebenraum. In den Regalen standen Aktenordner, Manuskriptbündel, aber auch von Hand beschriftete Schachteln. Berndorf versuchte, eine Ordnung oder ein System zu erkennen, nach welchem die Ordner und das sonstige Material abgelegt waren. Lass es sein, dachte er sich dann. Versuche nicht die Vergeblichkeit.
Sturzenegger holte eine Schachtel aus einem der Regale, stellte sie auf den kleinen Arbeitstisch und nahm den Deckel ab. »Nein«, sagte er enttäuscht. Er suchte weiter.
Die Luft in dem Lagerraum war abgestanden. Es roch nach Staub und trockenem Holz. Was tu ich hier, fragte sich Berndorf. Auf dem kleinen Arbeitstisch stand die fünfte Schachtel mit Papieren und Fotografien. Nichts davon hatte mit Remsheimer oder Christophsbrunn zu tun. Ich jage Gespenster, Spukgestalten in einem alten Schlossturm, dachte Berndorf, gleich kommt Spitzwegs Geigenspieler und kratzt uns ein Ständchen.
»Da ist es ja«, sagte Sturzenegger und holte von einem obersten Regalbrett die sechste Schachtel. »Das haben Studenten von mir auf einem Speicher des Anatomischen Instituts gefunden.« Er nahm den Deckel ab. In der Schachtel lag ein ungeordneter Haufen von Fotografien. Er zog einen der Abzüge heraus, es war das großformatige, mattglänzende Bild eines Mannes, der den Kopf sinnend in der Hand aufgestützt hatte. Der Mann trug eine dunkle Uniform mit einer Hakenkreuzbinde.
»Hier. Der damalige Direktor des Anatomischen Instituts. Der Mann war zugleich Leiter des NS-Dozentenbundes.« Sturzenegger betrachtete die Fotografie mit andachtsvollem Abscheu. »Die Bilder waren für eine Festschrift zum zwanzigjährigen Bestehen des Dozentenbundes bestimmt. Den
Herren kam dann das Kriegsende dazwischen.«
Die Bilder waren unsortiert, viele nicht einmal beschriftet. Sturzenegger ließ den Kommissar im Lesesaal zurück, wo dieser einen Arbeitstisch für sich fand. Berndorf begann, die Fotografien nach dem zeitlichen Ablauf zu sortieren. Die meisten Abzüge zeigten Gruppenaufnahmen von Männern in Parteiuniformen, die ihre Kinne energisch dem Beleuchter entgegenreckten oder sich gegenseitig das arische Profil zugewandt hatten. Andere Fotografien zeigten Fackelzüge, die entweder aus Anlass von Berufungen oder an einem der Jahrestage des Marsches auf die Feldherrnhalle stattgefunden hatten. Dazwischen fanden sich Porträts von Professoren mit der Hakenkreuzbinde bei ihrer Antrittsvorlesung, und eine ganze Folge von Hochglanzbildern war bei einem Universitätsball 1940 aufgenommen worden – die Herren wieder uniformiert, die Damen im Abendkleid und mit hoch gesteckten Frisuren, der Ball habe »für die Verwundeten des siegreichen
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