Der Schatten des Schwans
Er nahm es gerne an, dass ihm die Witwe auf dem wackeligen Esszimmertisch noch ein spätes Abendessen herrichtete.
In dem Neu-Ulmer Hochhausappartement mit dem breiten Panoramafenster hantierte Yvonne am Sektkühler. Eberhard Schülin betrachtete ihre nackte Rückseite, den schlanken Rücken mit dem hübschen Grübchen. Was für ein Arsch, dachte Schülin. Warum musste auf das Leben gerade dann ein Schatten fallen, wenn es wie eine eisgekühlte Veuve Clicquot war! Yvonne kam mit den zwei Sektgläsern zurück zum Bett. Schülin griff sich sein Glas, ohne den Blick von ihrem buschigen dunklen Vlies zu lassen. »Und du musst heute wirklich nicht zurück auf den Berg?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete Schülin. »Müssen muss ich dort gar nichts mehr.«
»Schön«, sagte Yvonne. Schülin fand, es hätte begeisterter klingen können.
»Trotzdem ist was«, bemerkte Yvonne und reichte ihm ein Sektglas.
»Nichts von Bedeutung«, sagte Schülin und nahm einen Schluck. Dann stand er auf und ging zu seinem Jackett.
»Hör mal«, sagte er, als er mit einem Schlüsseltäschchen zurückkam. »Versteck das irgendwo bei deinen Sachen. Es ist für ein Schließfach eines Mandanten. Du musst gar nichts Weiteres wissen. Tu mir den Gefallen.«
»Sehr viel Vertrauen hast du ja nicht gerade«, sagte Yvonne und musterte ihn aus ihren mandelförmigen dunklen Augen. »Es ist für einen Mandanten. Der Name würde dir nichts sagen. Und zu dieser kalten Witwe passt er schon gar nicht. Komm her. Versteck’s später . . .«
Mittwoch, 4. Februar
Eine frische Brise wehte von Westen, fuhr durch Immergrün und ließ halb verwelkte Kränze rascheln. Das Grab, vor dem die drei Männer standen, lag abseits der anderen Gräberreihen, in einem Winkel zwischen der Friedhofsmauer und einem kleinen Steinbau, in dem Gartengerät aufbewahrt wurde.
»Da siehst du«, sagte Kastner und fuhr mit dem Finger die Inschrift auf der schmucklosen kleinen Steinplatte nach. »Dr. Hendrik Hendriksen. 1912 bis 1945. Requiescat in Pace. Das ist doch der, den du suchst?«
»Das ist ja gerade die Frage«, sagte Berndorf. »Wer das wirklich ist, der da liegt.«
Das sei keine Frage, sagte der dritte Mann. Er trug einen grauen Arbeitskittel und war der Friedhofsverwalter der Gemeinde Wengenried. »Das war ein Militärarzt, und er hätt’ Akten von Christophsbrunn wegbringen sollen, bevor die Franzosen kommen. Aber dann haben ihn Tiefflieger erwischt, auf der Straß’ nach Überlingen. Mit ihm war ein Fahrer,
der war auch tot, hier können Sie’s sehen!« Und er führte sie zu einem zweiten Grab mit einer Steinplatte, auf der mit Mühe der Name »Anton Koslowski« und die Jahreszahlen »1898–1945« zu entziffern waren. »Ein Offizier von der Wehrmacht war auch dabei, ich erinner’ mich noch gut, auch wenn ich damals ein kleiner Bub war. Der Totengräber war mein Onkel und schon damals ein altes verhutzeltes Männlein, aber der Offizier hat ihn in einem fort angeschrien, warum er nicht schneller macht.«
Berndorf fragte, wo die Akten geblieben seien. »Die kamen ins Schulhaus, auf die Bühne«, sagte der Verwalter. »Später hat man sie abgeholt.«
»Wer hat das gemacht? Die Franzosen?«
»Nein«, sagte der Verwalter. »Das waren keine Franzosen. Sie klangen nur so. Das waren Leute aus der Schweiz, der Wirt bekam Silberfranken von ihnen. Im Dorf hat man lange darüber geredet. Ich meine, was geht es die Schweizer an, was in Christophsbrunn passiert ist?«
Der Wind blies stärker. Kastner zog fröstelnd die Schultern hoch. »Mich wundert, dass die beiden Gräber noch nicht aufgelassen sind«, sagte er dann. »So lange lasst ihr uns doch sonst nicht drin.«
»Wir sind hier auf dem alten Friedhof«, antwortete der Mann in dem grauen Kittel. »Die Gemeinde hat in den Siebzigerjahren einen neuen angelegt. Deshalb hat man die Gräber hier gelassen. Außerdem ist es sozusagen ein Streitfall.«
»Ein Streitfall?«, hakte Kastner nach.
»Ja«, antwortete der Mann. »Ob die zwei da Kriegstote sind oder zivile. Wenn es Kriegstote gewesen wären, hätte die Kriegsgräberfürsorge sie auf den Soldatenfriedhof in Hagnau umbetten sollen. Aber ob die auf einem militärischen Einsatz gewesen sind, als es mit ihnen passiert ist, hat niemand so genau sagen können. Da hat man dann gesagt, wir lassen es so, wie es ist.«
»Und wer hat die Grabplatten bezahlt?«, fragte Berndorf.
»Das war die Gemeinde«, sagte der Mann. »Die hatten beide keine Angehörigen
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