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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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belastend.«
    »Bisher dachte ich«, sagte Berndorf leise, »diese Vorkommnisse seien vor allem für diejenigen belastend gewesen, die dabei umgebracht wurden.«

    Friesche wurde blass. »Ich muss Ihnen sagen, dass Ihr Ton unangemessen sarkastisch ist. Diese Anstalt ist ein Heim für alte, schutzbedürftige Menschen, deren Gemüt keine weitere Unruhe verträgt. Dieses Heim ist in keiner Weise mit den damaligen – eh – bedauerlichen Vorfällen in Verbindung zu bringen.«
    Berndorf sah ihn ruhig an. »Haben Sie nun Unterlagen über die fragliche Zeit, über die letzten Kriegsmonate also, oder haben Sie sie nicht?«
    »Ich sage Ihnen doch, dass keinerlei Verbindung besteht. Soweit noch Akten und andere Unterlagen vorhanden waren, sind Sie an die staatlichen Archive überstellt worden. Wir haben mit jener Zeit nichts zu tun und sind deshalb in keinster Weise ein für Sie geeigneter Ansprechpartner.«
    »Sie wissen aber schon, was bei diesem Forschungsvorhaben hier in diesem Haus getrieben wurde?«
    In Friesches Gesicht kehrte die leichte Röte zurück. »Ich muss wiederholen, dass Ihr Ton absolut unangemessen ist. Im Übrigen weiß ich nicht, von welchen Vorgängen Sie sprechen. Ich darf Ihnen auch sagen, dass unsere Generation, die in diese Dinge nie verstrickt war, ein Recht darauf hat, damit nicht ständig konfrontiert zu werden. Ich darf Ihnen gegenüber auch meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, dass hier Steuergelder für Ermittlungen ausgegeben werden, an deren Ergebnissen niemand mehr interessiert sein kann.«
     
    Weiter unterhalb von Christophsbrunn kam Berndorf an der Bahnstation einer Linie vorbei, die früher über die Alb ins Unterland geführt hatte. Soviel er wusste, war die Linie schon vor Jahren eingestellt worden. Noch immer aber gab es den Bahnhof und daneben eine »Restauration zur Eisenbahn«. Sie sah gepflegt aus und einladend. Berndorf parkte seinen Wagen und trat in den Speisesaal. Er war dunkel getäfelt, und an den Wänden hingen alte Fotografien, auf denen Dampflokomotiven zu sehen waren und Bahnhofseinweihungen
mit vollbärtigen Herren in Zylindern und wohlgenährten Offizieren, die Helme mit Federbüschen trugen.
    Obwohl es ein Wochentag war, waren die meisten der weiß gedeckten Tische besetzt. Ein Ober wies Berndorf einen kleinen Tisch an, den er für sich hatte. Berndorf bestellte ein Hirschragout und überwand sich, keinen Wein dazu zu trinken, sondern Mineralwasser. Das Lokal hatte offenbar einen guten Ruf als Speiserestaurant der gehobenen Klasse. Das Publikum sah nach Geschäftsleuten aus. Sie mochten aus der Industriestadt Reutlingen gekommen sein oder aus Stuttgart. Das Hirschragout war vorzüglich – zart, nicht faserig. Mit dem richtigen Wildgeschmack. Berndorf griff zu. Plötzlich fiel ihm die Rückfahrt von Ludwigsburg ein. Tamar hatte ihm von den Zeugenaussagen erzählt; die sie in einem der Ordner gefunden hatte. An den Tagen, an denen in Christophsbrunn ein Transport mit behinderten Menschen eingetroffen war, begann das Krematorium abends zu arbeiten. Und in den Dörfern rund um Christophsbrunn schlossen die Bauersfrauen eilends die Fenster und nahmen die frische Wäsche von der Leine. Denn die Rauch- und Qualmwolken zogen nachts und am nächsten Tag weit über die Alb. Spät abends kehrten dann die Pfleger aus Christophsbrunn in der »Bahnhofsrestauration« ein und feierten bei Schnaps und Most. Es hatte deswegen sogar eine Eingabe bei der zuständigen Kreisparteileitung gegeben. Das Benehmen der Pfleger beleidige das allgemeine Volksempfinden, hatte ein besorgter Parteigenosse Anfang 1940 geschrieben.
    Berndorf ließ das halbe Ragout stehen und zahlte. Nein, sagte er dem besorgten Ober, das Ragout sei nicht zu beanstanden. Es war noch zu früh. Trotzdem fuhr er nach Waldhülen. Es lag nur wenige Kilometer von Christophsbrunn entfernt. An der Einmündung einer kleinen Straße bog er links ein. Sie führte einen kahlen, von Wacholderbüschen bestandenen Berghang hinauf. Als er auf der Kuppe angelangt war, sah er ein Dorf unter sich liegen. Es lag auf einem Ausläufer
des Berghangs, um eine kleine Kirche mit spitzem Turm gruppierten sich steile und vielfach geflickte Dächer, an einem Südhang gegenüber des alten Ortskerns breitete sich eine Siedlung mit Wochenendhäusern aus.
    Berndorf fuhr ins Dorf, vorbei an den kleinen schwäbischen Bauernhäusern: Küche, Wohn- und Schlafzimmer über den Ställen, daneben die Scheuer. Die Häuser sahen gepflegt aus, aber

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