Der Schatten des Schwans
Einzelzimmer für ihn.
Es lag im zweiten Stock und hatte schräge, holzgetäfelte Wände. Berndorf stellte seine Tasche ab und ging ans Fenster. Er schob den Leinenvorhang zur Seite und warf einen Blick auf die dunkle schweigende Fläche, über die sich schon die Nacht ausbreitete. Im Westen sah man noch einen letzten Streifen rötlichen Lichtes. Dann setzte er sich auf das schmale Bett mit dem blau-weiß karierten Bezug und wählte auf seinem Handy die Nummer, die ihm Tamar durchgegeben hatte.
Nach dem zweiten Signalton meldete sich eine ruhige, geschäftsmäßige Stimme: »Seiffert. Ortsverwaltung.«
Berndorf stellte sich vor. »Wenn ich mich nicht täusche, kennen wir uns«, sagte er dann. »Polizeipräsidium Stuttgart, Anfang der Siebzigerjahre. Ich war sozusagen einer Ihrer Lehrlinge im Dezernat Kapitalverbrechen.«
»Sie sollen nicht untertreiben, junger Mann«, sagte Seiffert. »Sie waren ein Ausgelernter, ich weiß es noch wie heut. Schmal wie ein Handtuch. Aber ausgelernt.« Er machte eine kurze Pause. »Aber dass Sie sich erinnern, freut einen alten Mann schon. Wenn ich fragen darf: Was verschafft mir die Ehre?«
Berndorf berichtete kurz von seinen Nachforschungen. Sie verabredeten sich für den nächsten Nachmittag. »Ab zwei Uhr bin ich wieder in der Ortsverwaltung. Irgendwas muss man umtreiben, man rostet sonst.« Am Vormittag war Seiffert verhindert. Er musste zu einer Beerdigung.
Donnerstag, 5. Februar, 10 Uhr
Die Straße führte durch ein Waldtal. Von Zeit zu Zeit verengte es sich, und manchmal ragten graue Felsen über die Fahrbahn hoch. Ihre Kuppen waren mit Moos und Schneeresten bedeckt. Dann weitete sich das Tal, eine mit Birken bestandene Allee zweigte von der Straße ab. Durch die Bäume hindurch sah Berndorf die grauen Doppeltürme der Schlossanlage Christophsbrunn. Die Allee endete vor einer Absperrung. Berndorf folgte einem Wegweiser zu den Besucherparkplätzen und stellte seinen Citroën zwischen sorgfältig geschnittenen Heckenbuchen ab. Sonst stand kein Wagen da.
An der Pförtnerloge zeigte er seinen Dienstausweis vor und bat, ihn bei der Anstaltsleitung anzumelden. Ein Mensch in einer Strickweste machte sich widerwillig daran, bei jemand anzurufen, den er für zuständig hielt.
»Sind Sie angemeldet?«, wollte er dann wissen.
»Nein«, sagte Berndorf. »Ich brauche nur ein paar kurze Auskünfte.« Der Pförtner wandte sich wieder dem Telefon zu. Schließlich fand er offenbar jemand, der für Berndorf Zeit hatte. »Dr. Friesche, zweiter Stock, kann Sie empfangen«, sagte er durch die Sprechscheibe der Pförtnerloge und ließ ihn durchgehen. Auf dem Weg zum Hauptgebäude kam Berndorf an einer Bronzeplatte vorbei, die in den gekiesten Boden eingelassen und von Koniferen gesäumt war.
»Zum Gedenken an die unschuldigen Menschen, die hier in den Jahren 1939 und 1940 Opfer eines verbrecherischen Systems wurden.«
Es waren einige tausend, dachte Berndorf, und sie waren Opfer von Mördern, die einen Namen hatten. Sie hatten die Geisteskranken in der Gaskammer ermordet, oder mit Spritzen. Die exakte Wahrheit schickte sich wohl nicht für Bronzetafeln. Er stieg ein großzügiges, lichtes Treppenhaus empor. Es sah nach beginnendem Klassizismus aus. In einem Büro mit drei großen Fenstern nach Süden empfing ihn ein magerer Mann in einem weißen Arztkittel, das Haar nach hinten gekämmt. Durch eine randlose Brille betrachtete er Berndorf, als habe er das besonders unangenehme Exemplar einer Kreuzotter vor sich. Sein Namensschild wies ihn als Dr. Ludwig Friesche aus. Er war stellvertretender Leiter des Landeskrankenhauses Christophsbrunn.
»Ich bin etwas überrascht«, sagte er, »dass Sie Ihren Besuch nicht vorher angekündigt haben.«
Berndorf sagte, es habe sich bei seinen Ermittlungen ganz zufällig eine Frage ergeben. »Reine Routine. Ich möchte die Identität eines Toten klären. Möglicherweise hat dieser Mann in der Zeit zwischen August 1944 und Kriegsende an einem Forschungsvorhaben der Universität Tübingen mitgearbeitet, das hierher ausgelagert war.«
Friesches mageres Gesicht versteinerte.
»Ich wüsste gerne«, schloss Berndorf, »ob es in Ihrem Haus noch Unterlagen über diese Zeit gibt.«
Die Erstarrung in Friesches Gesicht löste sich. Eine leichte Röte stieg in ihm hoch. »Ich glaube, Sie wissen nicht, was diese Anstalt durchgemacht hat. Und was sie bis heute durchmacht. Die Erinnerung an die Vorkommnisse von 1939 und 1940 sind für unsere Arbeit außerordentlich
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