Der Schatten des Schwans
auf der Hut als zuvor.
»Da können wir nichts machen«, fuhr Berndorf fort. »Es gibt Gerüchte, dass Dr. Hendriksen noch lebt. Dass er nach
dem Krieg unter anderem Namen geheiratet hat. Aber das kann man nicht beweisen, und man kann es auch nicht widerlegen. Man könnte es nur, wenn man ein gutes Foto hätte.« Berndorf machte eine Pause.
Seiffert räusperte sich. »Sag nichts, Jonas«, sagte die Frau. »Ich glaub’ dir und deinem Gott nicht. Den gibt es nicht.« Ihre dunklen Augen waren auf Berndorf gerichtet. »Der Mann, von dem Sie reden, hat geheiratet?«
»Ja, gleich nach dem Krieg«, wiederholte Berndorf. »Er hat eine Tochter. Und eine Enkelin, ein hübsches Mädchen.«
Die Frau schaute ihn an. Dann stand sie mühsam auf und ging zu dem dunklen Büfett. Sie zog eine Schublade auf und griff in dessen hinterste Ecke. Berndorf sah, dass sie dort einen Schlüssel versteckt hatte. Sie öffnete damit eine zweite Schublade und holte ein großformatiges, in dunkles Leder gebundenes Album hervor. Schweigend schleppte sie sich zum Tisch zurück und schlug das Album vor Berndorf auf. »Hier. Hendrik. Da sehen Sie, dass es nicht der Mann ist, von dem Sie reden.« Berndorfs Blick fiel auf das großformatige Porträt eines jungen blonden Mannes. Der Mann hatte ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht. Sein Haar war zurückgekämmt, und die Augen blickten kühl.
»Sie kennen diesen Mann?«
Das war Seiffert.
»Ja«, antwortete Berndorf. »Ich glaube, ich kenne ihn.«
Er griff wieder in seine Jackentasche und holte den Umschlag mit den Abzügen hervor, die ihm der Tagblatt-Fotograf gemacht hatte. Er suchte eines der Bilder aus und legte es neben das Porträt Hendriksens.
Das Bild zeigte Professor Gustav Twienholt, und es war entstanden, als ihm der Oberbürgermeister das Bundesverdienstkreuz am Bande überreicht hatte. Das Gesicht war alt geworden, aber es war noch immer schmal und scharf geschnitten. Und die Augen hatten ihre Kälte nur wenig gemildert.
»Ein jegliches hat seine Zeit«, sagte Jonas Seiffert. »Aber das hier, Hildegard, ist zweimal der gleiche Mann.«
Hildegard Vöhringer starrte blicklos auf die Fotografie. »Ich glaube es nicht«, sagte sie leise. »Ich will es nicht glauben.«
Donnerstag, 5. Februar, 18 Uhr
Am späten Nachmittag war Berndorf wieder in Ulm. Um Steinbronners Straßensperren zu umgehen, hatte er seinen Wagen auf einem Parkplatz beim Bahnhof Blaubeuren abgestellt und war die letzten zwanzig Kilometer mit dem Zug gefahren. Im Ulmer Hauptbahnhof patrouillierten noch immer Grenzschutzbeamte mit umgehängter Maschinenpistole. Unter ihren argwöhnischen Augen verstaute der Kommissar seine Reisetasche in einem Schließfach.
Der nächste Weg zum Hotel im Bäumlesgraben hätte über die Fußgängerzone geführt und damit am Neuen Bau vorbei. Berndorf nahm einen Umweg durch kleine Gassen. Das Hotel war ein unauffälliger Fachwerkbau, nicht neorustikal aufgeputzt, wie das sonst bei solchen Häusern üblich geworden war. An der Rezeption musste er klingeln. Eine grauhaarige Frau erschien und erklärte auf seine Frage, Frau Wegenast sei nicht da.
»Sie sind Herr Berndorf?«, wollte sie dann wissen. Er nickte. Sie drehte sich zu den Fächern für die Post der Hotelgäste und reichte ihm einen weißen Umschlag. »Ich soll Ihnen das hier geben.« Berndorf dankte und ging.
In der Gasse vor dem Hotel blieb er zunächst stehen und sah sich um. Einige Schritte weiter war eine kleine Kunstgalerie, das Schaufenster mit bunt bemalten Holzplastiken voll gestellt und hell erleuchtet.
Er stellte sich vor das Schaufenster, öffnete den Umschlag und zog das Funkbild heraus, das Rauwolf aus Görlitz geschickt
hatte. Es war das Porträt eines blonden, sehr jungen Mannes. Er trug Wehrmachtsuniform, aber auch in der Uniform sah er weich und verletzlich aus.
Es war das Bild des Wehrmachtsleutnants Gustav Twienholt, im Juni 1944 in Bad Muskau aufgenommen.
Berndorf holte die Fotografie aus seiner Tasche, die ihm Hildegard Vöhringer nach langem Zögern aus ihrem Album herausgetrennt hatte. Auch dies war das Porträt eines blonden Mannes, und wie das andere war es 1944 aufgenommen worden.
Berndorf hielt die beiden Bilder nebeneinander ins Licht des Schaufensters. Niemand konnte den Leutnant Twienholt mit dem Oberfeldarzt Hendriksen verwechseln. Außer den blonden Haaren hatten sie nichts gemeinsam. So wenig, wie der Leutnant Twienholt etwas gemeinsam hatte mit dem Mann, der fünfzig Jahre später als
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