Der Schatten des Schwans
Bauern wohnten nicht mehr dort. Die lebten auf den Aussiedlerhöfen, die im Tal verstreut waren.
Der Platz vor dem Dorfwirtshaus war zugeparkt. Hatte Seiffert nicht von einer Beerdigung gesprochen? Also waren die Gäste noch beim Leichenschmaus.
Berndorf fand einen Parkplatz unter kahlen Kastanien, die vor einem grauen, zweigeschossigen Haus gepflanzt waren. Weil er noch fast eine halbe Stunde Zeit bis zu seinem Gespräch mit Jonas Seiffert hatte, rief er Tamar an.
»Gut, dass Sie anrufen«, sagte sie. Ihr Stimme klang fest. »Steinbronner lässt schon nach Ihnen suchen.«
»Suchet, so werdet ihr finden«, meinte Berndorf fromm. »Wichtiger ist, wo Sie heute Abend zu finden sind.«
»Kennen Sie das Hotel im Bäumlesgraben?« Das war ein altmodisches Gasthaus unweit des Münsters, wie es sonst eigentlich keine Hotels mehr gab. Berndorf hätte es sofort geglaubt, wenn Tamar ihm erzählt hätte, dass sie noch ein »Lavoir« im Zimmer hätte, ein Waschbecken auf einer Kommode mit einem großen Krug Wasser darin. Was hatte Tamar dort zu suchen?
»Sie können jederzeit vorbeikommen. Wenn ich nicht da sein sollte, ist ein Umschlag mit dem Foto für Sie an der Rezeption hinterlegt.«
Offenbar gab es keinen besonderen Grund, warum Tamar dort war. Sie wohnte einfach dort. Ach Gott, dachte er, der Oberarzt hat es vergeigt.
Er stieg aus und ging zu dem alten Friedhof, der um die Kirche herum angelegt war. Er versuchte, sich an die Zeit zu
erinnern, als er Seiffert kennen gelernt hatte. Der war damals, Anfang der Siebzigerjahre, ziemlich unwillig nach Stuttgart gekommen. Er hatte es als Strafversetzung empfunden. Was war das nur für eine Sache gewesen?
Dann fiel es ihm wieder ein. Es war die Geschichte mit den Sinti, die ein Haus in einem Dorf im Lautertal gekauft hatten. Aber bevor sie einziehen konnten, hatte die Dorfjugend das Haus abgefackelt. Seiffert hatte ermittelt und sehr schnell herausgefunden, dass die Dorfhonoratioren die Brandstiftung in Auftrag gegeben hatten. Als es mit dem Strafverfahren ernst wurde, war der Bürgermeister zu Pontius und Pilatus gelaufen, und der Landtagsabgeordnete für das Lautertal, ein Müllermeister, hielt sogar im Stuttgarter Landtag deswegen eine Rede.
»Wir fordern eine fa-ire, sprich fähre Behandlung dieser besorgten Bürger«, hatte der Müllermeister gesagt, weil es so in dem Text stand, den ihm der Landrat aufgesetzt hatte. Und der Kriminalinspektor Jonas Seiffert wurde wegen unangebrachter Tüchtigkeit ins Stuttgarter Polizeipräsidium befördert.
Berndorf blieb vor einem Berg von Blumen und Kränzen stehen. Die Beerdigung vom Vormittag, dachte er und beugte sich über das provisorische Holzkreuz. Unter dem Blumenhügel lag eine Roswitha Betz. Den Namen hatte er schon einmal gehört. Ebenfalls von Tamar. Es war eine der Zeuginnen, die Seiffert 1961 vernommen hatte.
Lass wirklich alle Hoffnung fahren, dachte Berndorf. Er hatte nichts als ein verwischtes Foto. Niemanden konnte man damit identifizieren. Aus. Vorbei. Und hier: Grabesschweigen. Er verließ den Friedhof und ging zu dem Dorfschulhaus, in dessen Nebenflügel die Ortsverwaltung von Waldhülen untergebracht war. Ein kleiner Aufgang führte zur Eingangstür, über der in Fraktur noch die Aufschrift »Rathaus« stand. Berndorf trat in einen leeren Vorraum und klopfte an eine Glastür. Eine Stimme rief: »Herein.« Berndorf öffnete die Tür
und trat in ein kleines, bescheiden möbliertes Büro. Hinter einem Bildschirm saß ein Mann in einem schwarzen Anzug. Bedächtig, mit schweren breiten Händen, gab er die Befehle ein, um sein Programm abzuschließen. Dann erhob er sich. Es dauerte eine Weile, bis er sich aufgerichtet hatte. Seiffert war noch immer groß und massig. Aber er ging etwas vornübergebeugt, das dunkle Haar war schütter geworden. Seine Augenbrauen schienen noch buschiger als früher. Er packte Berndorfs Hand und schüttelte sie.
»Ein Handtuch sind Sie grad nicht mehr«, sagte er dann. »Setzen Sie sich und erzählen Sie. Ermitteln Sie tatsächlich wegen Christophsbrunn? Ich kann es fast nicht glauben.«
Vor diesem Augenblick hatte Berndorf sich gefürchtet. Er mochte den alten Mann nicht anlügen. Aber dass man ihn suspendiert hatte, konnte er Seiffert nicht erzählen. Der blieb, was immer er selbst erlebt hatte, bis zuletzt ein gehorsamer Staatsdiener.
Schließlich erklärte er einfach, warum er nicht an den Tod des Oberfeldarztes Hendrik Hendriksen glaube. »Er hat einen anderen unter seinem
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