Der Schatten des Schwans
eigenen Namen begraben lassen. Das ging so lange gut, bis der Sohn auf der Bildfläche erschien. Der Sohn von dem Mann, dem Hendriksen den Namen gestohlen hat.«
»Und da müssen Sie jetzt heute kommen, ausgerechnet heute«, sagte Seiffert und betrachtete Berndorf nachdenklich. »Heute haben wir eine der Letzten begraben, die uns hätte helfen können. Roswitha Betz. Sie hat in Christophsbrunn in der Küche gearbeitet.«
»Ich weiß«, sagte Berndorf und zeigte seine leeren Hände. »Ich war auf dem Friedhof. Was ich jetzt noch in der Hand habe, ist ein verwackeltes Foto.«
Seiffert wiegte den Kopf. »Sie sollten mehr Gottvertrauen haben, junger Mann. Die Sonne bringt mehr an den Tag, als die kleinen Menschlein verbergen können.« Er ging zu einem Garderobenständer und setzte sich einen schwarzen Hut auf.
Berndorf half ihm in den Mantel. »Kommen Sie«, sagte Seiffert.
Die beiden Männer gingen an der Kirche vorbei und bogen dann nach links zu einem steilen Fußweg ab, der ins Unterdorf hinabführte. Seiffert ging voran in eine Gasse, die bei einem allein stehenden Häuschen endete. Es hatte weder Scheuer noch Stall, und an den Fenstern hingen Blumenkästen. Seiffert öffnete ohne Zögern die Haustür und rief: »Hildegard!« Dann wartete er. Aus einem der hinteren Zimmer kam eine alte, von der Osteoporose nach vorne gekrümmte weißhaarige Frau. Auch sie war schwarz gekleidet.
»Jonas?«, sagte sie fragend.
»Ich möchte, dass du mit dem Herrn Berndorf da redest«, sagte Seiffert. »Er ist ein wichtiger Polizist aus Ulm. Dürfen wir herein?«
Die alte Frau schlurfte zu einer Tür und öffnete sie. Dann wartete sie, bis die beiden Männer eingetreten waren. Das Zimmer wurde von einem mächtigen dunklen Büfett beherrscht. In einer Ecke stand ein Eisenofen, doch das Zimmer war kalt. Es roch nach Bohnerwachs und Möbelpolitur. In der Mitte stand ein runder Tisch, über dem eine ausladende Lampe mit einem Seidenschirm hing. Seiffert und Berndorf nahmen sich je einen der Holzstühle, die um den Tisch standen, und setzten sich. Die Frau fragte, ob sie einen Kaffee machen dürfe, oder ob ein Most gefällig wäre.
Es sei nicht nötig, sagte Seiffert. »Wir bleiben nicht lang.« Die Frau setzte sich und stützte sich auf dem Tisch auf. Ihr Gesicht war eingefallen. Aber die Augen blickten wach und waren auf der Hut.
»Das ist Hildegard Vöhringer«, erklärte Seiffert. »Sie hat früher in der Verwaltung von Christophsbrunn gearbeitet.« Dann wandte er sich ihr zu. »Der Herr Berndorf will klären, was aus einem der Ärzte von Christophsbrunn geworden ist. Wir beide haben ja schon einmal darüber gesprochen. Der Arzt, um den es geht, ist Dr. Hendrik Hendriksen.« Berndorf
nickte bestätigend und holte aus seiner Jackentasche den Schnappschuss, der 1944 in dem Tübinger Universitätslabor entstanden war.
Dann zögerte er und legte das Bild verdeckt vor sich auf den Tisch. »Sagt Ihnen der Name ›Schwanensee‹ etwas?« Die Frau betrachtete ihn aufmerksam. »So hieß die Station«, antwortete sie bedächtig. »Es waren Baracken, die bei einem Feuerlöschteich standen. Irgendwer hat den Teich Schwanensee genannt. Nach dem Krieg ist er zugeschüttet worden.«
Berndorf drehte das Bild um, das auf dem Tisch vor ihm lag. »Kennen Sie diese Männer?«
Sie schaute abweisend. Aber doch auch interessiert. »Doch«, sagte sie dann. »Das da ist der Professor, Remsheimer – glaube ich – hat er geheißen. Und das da war der Dr. Samnacher.«
»Den dritten Mann erkennen Sie nicht?«, hakte Berndorf nach. Die Frau warf ihm einen scheuen Blick zu. Plötzlich straffte sich ihr Gesicht, und sie versuchte, sich aufzurichten. »Es ist Dr. Hendriksen. Aber es ist ein schlechtes Bild.« Unvermutet lächelte sie, und Berndorf sah, dass sie einmal eine attraktive Frau gewesen sein mochte.
»Hendrik war ein gut aussehender Mann«, fügte sie hinzu.
Hendrik? Seiffert und Berndorf warfen sich einen Blick zu. »Hast du vielleicht ein besseres Bild von ihm?«, fragte Seiffert. Das Lächeln verschwand. »Nein«, sagte sie. »Ich hab’ kein Bild, Jonas. Das hab’ ich dir schon damals gesagt. Außerdem – was will der Herr damit? Hendrik ist tot. Du hast es mir selbst gesagt. Es waren die Tiefflieger.«
»Und wenn er damals nicht ums Leben gekommen wäre, wüssten Sie es, nicht wahr?«, sagte Berndorf. »Er hätte Ihnen geschrieben, das wenigstens.«
Die Frau sah ihn an, als verstehe sie ihn nicht. Aber die Augen waren noch mehr
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