Der Schatten erhebt sich
letzte Mal gesehen hatte, hatte das Mädchen sich gerade mit einem kräftigen Wachsoldaten in ein kleines Waldstück zurückgezogen. Sie würden heiraten, wahrscheinlich sogar noch vor Ende des Sommers. Das hatte Min gesehen, sobald sie die beiden zusammen erblickte. Die Burg ließ wohl niemals eine Novizin vor Ende ihrer Ausbildung gehen, selbst wenn kaum noch Fortschritte zu erwarten waren, aber in der Zukunft des Paares lagen ein Bauernhof und eine Schar Kinder. Es war allerdings sinnlos, der Amyrlin auch das mitzuteilen.
»Könntet Ihr nicht wenigstens Gawyn und Galad wissen lassen, daß Egwene und ihre Schwester in Sicherheit sind, Mutter?« Ihre eigene Frage irritierte sie, genauso wie ihr Tonfall dabei. Es war, als bettle ein Kind um einen Keks, nachdem ihm ein Stück Kuchen verweigert worden war. »Sagt Ihnen doch wenigstens etwas anderes als diese lächerliche Geschichte, daß sie Strafdienst auf einem Bauernhof leisten müssen.« »Ich habe dir doch gesagt, daß dich das nichts angeht. Ich will das nicht noch einmal wiederholen.« »Sie glauben das doch genausowenig wie ich«, brachte Min heraus, bevor das trockene Lächeln der Amyrlin ihr die weiteren Worte im Hals ersterben ließ. Das Lächeln wirkte überhaupt nicht amüsiert.
»Du schlägst also vor, ich soll etwas anderes sagen, wo sie sich aufhalten? Nachdem ich jedem erzählt habe, sie befänden sich auf einem Bauernhof? Glaubst du nicht, das würde einigen zu denken geben? Jeder außer diesen Jungen akzeptiert die Geschichte. Und außer dir. Nun, Coulin Gaidin wird einfach härter mit ihnen arbeiten müssen. Ein Muskelkater und genug Schweiß wird die meisten Männer von allen anderen Problemen ablenken. Auch bei Frauen wirkt das. Stell mir noch viele Fragen, und ich werde sehen, ob ein paar Tage Töpfe schrubben dir nicht guttun. Besser ein paar Tage auf deine Dienste verzichten, als daß du deine Nase ständig in Dinge steckst, die dich nichts angehen.« »Ihr wißt noch nicht einmal, ob sie in Schwierigkeiten stecken oder nicht. Oder Moiraine.« Sie meinte aber in Wirklichkeit nicht Moiraine damit.
»Mädchen«, sagte Leane warnend, aber Min ließ sich jetzt nicht aufhalten.
»Warum haben wir nichts von ihnen gehört? Die Gerüchte sind schon vor zwei Tagen bis hierher gedrungen. Zwei Tage! Warum enthält keiner dieser Fetzen auf Eurem Tisch eine Nachricht von ihr? Hat sie keine Tauben? Ich glaubte, Ihr Aes Sedai hättet überall Eure Leute mit Brieftauben sitzen. Wenn das in Tear nicht der Fall ist, sollte man schleunigst jemanden hinschicken. Selbst ein Reiter hätte mittlerweile Tar Valon von dort aus erreicht. Warum... « Das Klatschen von Siuans Handfläche auf den Tisch ließ sie abbrechen. »Du gehorchst erstaunlich gut«, sagte sie trocken. »Kind, bis wir das Gegenteil hören, müssen wir annehmen, daß es dem jungen Mann gutgeht. Bete darum, ja?« Leane schauderte wieder. »Es gibt ein Sprichwort im Mauleviertel, Kind«, fuhr die Amyrlin fort. »›Sorge dich nicht, bevor die Sorgen dich plagen.‹ Merk dir das gut, Kind.« Es klopfte schüchtern an die Tür.
Die Amyrlin und die Behüterin tauschten einen Blick, und dann sahen beide Min an. Ihre Gegenwart stellte ein Problem dar. Es gab keinen Fleck, wo sie sich hätte verstecken können. Selbst der gesamte Balkon war vom Zimmer aus einsehbar.
»Ein Grund, warum du dich hier befinden könntest, ohne deshalb mehr als das närrische Mädchen darzustellen, als das du hier bekannt bist. Leane, stell dich schon mal an die Tür.« Sie und die Behüterin standen gleichzeitig auf. Siuan kam um den Tisch herum auf Min zu, während Leane zur Tür ging. »Setz dich auf Leanes Stuhl, Mädchen. Beweg dich, Kind, los! Jetzt schmolle ein wenig. Nicht wütend dreinblicken - nur schmollen. Drücke die Unterlippe heraus und blicke zu Boden. Ich will möglicherweise, daß du dir Bänder ins Haar steckst - breite, rote Bänder... Gut so. Leane.« Die Amyrlin stützte die Fäuste auf die Hüften und erhob die Stimme: »Und wenn du noch einmal unangemeldet hereinschneist, Kind, werde ich... « Leane öffnete die Tür, und dahinter stand eine dunkelhaarige Novizin, die zusammenzuckte, als sie Siuans anhaltende Tirade hörte, und die dann tief knickste. »Botschaften für die Amyrlin, Aes Sedai«, quiekte das Mädchen ängstlich. »Zwei Tauben sind im Schlag angekommen.« Es war eine von denen, die Min ihrer Schönheit wegen bewundert hatten, und sie bemühte sich, an der Behüterin mit weit
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