Der Schatten erhebt sich
Unkenntlichkeit verändert und veränderte sich immer noch. Die Ebene, über die sie letztes Jahr gezogen waren, konnte durchaus dieses Jahr durch einen Berg ersetzt sein. Also dehnte sich die Fäule aus. Myrddraal und Trollocs trieben immer noch ihr Unwesen. Menschen mit Gesichtern wie die Tiere, Menschen, die nichts mehr von den Da'schain wußten und sie nicht erkannten, stahlen ihre wenigen Güter. Das Atmen fiel ihm schwer. Die Ogier verloren. Die Aiel verloren. Alles verloren. Der Ring um seine Brust wurde immer enger. Der Schmerz ließ ihn aufstöhnen. Er sank auf die Knie nieder, krümmte sich und griff nach seiner Brust. Eine Faust hielt sein Herz gefangen und drückte zu.
Adan kniete besorgt neben ihm nieder. »Vater, was ist los? Was ist passiert? Was kann ich tun?« Jonai schaffte es, seinen Sohn am ausgefransten Kragen zu packen und seinen Kopf nahe heranzuziehen. »Bring -die Menschen - nach Süden.« Zwischen Krämpfen, die ihm das Herz aus dem Körper zu reißen schienen, brachte er diese Worte mühsam heraus.
»Vater, du bist derjenige... « »Hör zu. Hör zu! Bringe sie - nach Süden. Bringe - die Aiel - in Sicherheit. Haltet euch an - den Pakt. Behüte -was die Aes Sedai - uns anvertrauten - bis sie - es holen. Der Weg - des Blattes. Du mußt... « Er hatte sich bemüht. Solinda Sedai würde das einsehen. Er hatte es versucht. Alnora.
Alnora. Der Name verschwamm und der Schmerz in Rands Brust löste sich. Kein Sinn. Das ergab keinen Sinn. Wie konnten diese Menschen Aiel sein?
Die Säulen wurden von grellen Lichtwellen überlaufen. Ein Lufthauch erhob sich und wurde zum Wirbel.
Neben ihm öffnete Muradin den Mund weit, um zu schreien. Der Aiel krallte nach seinem Schleier, nach seinem Gesicht. Seine Fingernägel hinterließen lange, blutige Spuren.
Vorwärts.
Jonai eilte durch die verlassenen Straßen und versuchte, die zerstörten Gebäude und die abgestorbenen Chorabäume nicht zu beachten. Alles tot. Wenigstens hatte man die letzten der schon lange stehengelassenen Jomobile weggeschafft. Nachbeben ließen den Boden unter seinen Füßen immer noch erzittern. Er trug Arbeitskleidung, also natürlich den Cadin'sor, obwohl die ihm zugeteilte Arbeit nicht dem entsprach, wofür man ihn ausgebildet hatte. Er war dreiundsechzig, stand in der Blüte seines Lebens, noch nicht alt genug, um graue Haare zu haben, doch er fühlte sich wie ein müder alter Mann.
Niemand stellte ihm eine Frage, als er die Halle der Diener betrat. Es stand einfach niemand mehr unter den mächtigen Säulen am Eingang, der ihn hätte befragen oder begrüßen können. Drinnen liefen viele Menschen umher, die Arme voll mit Papieren oder Schachteln, die Augen ängstlich weit geöffnet, aber niemand beachtete ihn. Es lag ein Hauch von Panik in der Luft und das nahm mit jedem Nachbeben zu. Beunruhigt schritt er durch das Foyer und die breite Treppe hoch. Der silbrigweiße Elstein war verschmutzt. Niemand hatte Zeit, sich darum zu kümmern. Vielleicht war es allen auch gleichgültig.
Er brauchte nicht an die Tür klopfen, die er gesucht hatte. Es war keine der großen, vergoldeten Türen zu einem der Versammlungsräume, sondern eine kleine, unauffällige Seitentür. Er schlüpfte leise hinein, und dann war er froh darüber. Ein halbes Dutzend Aes Sedai stand um den langen Tisch herum und diskutierte. Sie schienen gar nicht zu bemerken, wenn das Gebäude bebte. Es waren alles Frauen.
Er schauderte, als er sich fragte, ob jemals wieder Männer an einer solchen Sitzung teilnehmen würden. Als ihm dann noch bewußt wurde, was auf dem Tisch lag, wurde aus dem Schaudern ein Zittern. Es war ein Kristallschwert - vielleicht als geistiger Brennpunkt für die Verwendung der Macht gedacht, vielleicht auch nur als Zierrat. Das konnte er nicht beurteilen. Jedenfalls lag das Schwert auf der Drachenflagge von Lews Therin Brudermörder, die wie ein Tischtuch ausgebreitet worden war und bis auf den Boden hinabhing. Sein Herz verkrampfte sich. Was hatte das hier zu suchen? Warum hatte man beides nicht zerstört, genau wie die Erinnerung an diesen verfluchten Mann?
»Was nützt schon Eure Weissagung«, schrie Oselle beinahe, »wenn Ihr uns nicht sagen könnt, wann das geschieht?« Ihr langes, schwarzes Haar flog, als sie den Kopf zornig schüttelte. »Der Bestand der Welt hängt davon ab! Die Zukunft! Das Rad selbst!« Deindre blickte sie aber sehr viel ruhiger mit ihren dunklen Augen an. »Ich bin nicht der Schöpfer. Ich kann Euch nur das
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