Der Schatten erhebt sich
zurück. Wann war Esole gestorben? So klein war das hastig gegrabene Loch, in das man sie gelegt hatte, nachdem es keine Aes Sedai in der Nähe gegeben hatte, die ihre Schwindsucht hätte heilen können.
»Es sind Ogier da, Vater«, sagte Adan aufgeregt. Jonai vermutete, sein Sohn habe nie geglaubt, daß die Geschichten von den Ogiern die reine Wahrheit seien. »Sie sind vom Norden hergekommen.« Es war eine abgerissene Schar, zu der ihn Adan führte, nicht mehr als fünfzig, mit hohlen Wangen, traurigen Augen und schlapp herunterhängenden behaarten Ohren. Er hatte sich an die ausgezehrten Gesichter und die abgetragene, geflickte Kleidung seiner eigenen Leute gewöhnt, aber die Ogier im gleichen Zustand zu erleben schockierte ihn doch. Aber er hatte Menschen, um die er sich kümmern mußte, und Verpflichtungen den Aes Sedai gegenüber. Wie lange hatte er schon keine Aes Sedai mehr gesehen? Das letzte Mal, kurz nachdem Alnora gestorben war. Für Alnora war es zu spät gewesen. Die Frau hatte die immer noch am Leben Befindlichen geheilt, einige der Sa'Angreal mitgenommen und war ihres Weges gezogen. Sie hatte nur bitter gelacht, als er sie fragte, wo es einen sicheren Ort gebe. Auch ihr Kleid war geflickt und am Saum abgewetzt gewesen. Er war nicht sicher, ob sie geistig noch normal sei. Sie behauptete, einer der Verlorenen sei nur zum Teil gefangen oder vielleicht auch gar nicht. Ishamael berührt die Welt immer noch, hatte sie gesagt. Sie mußte genauso wahnsinnig sein wie die übriggebliebenen männlichen Aes Sedai.
Er riß sich von seinen Erinnerungen los und wandte sich den Ogiern zu, die unsicher auf ihren langen Beinen standen. Seit Alnoras Tod war er zu oft geistesabwesend. Sie hatten Brot und Schüsseln in den Händen. Er erschrak, als ihm klar wurde, daß er sich ärgerte, weil jemand von ihren wenigen Lebensmitteln mitgegessen hatte. Wie viele seiner Leute konnten von dem leben, was fünfzig Ogier vergaßen? Nein. Der Weg sagte ihnen, daß sie teilen mußten. Großzügig geben. Hundert Leute. Zweihundert?
»Ihr habt Chora-Schößlinge«, sagte einer der Ogier. Seine dicken Finger strichen sanft über die dreifingrigen Blätter der beiden Topfpflanzen, die an der Seite eines Wagens festgebunden waren.
»Ein paar«, sagte Adan kurz angebunden. »Sie sterben, aber die alten Leute ziehen zuvor immer neue Schößlinge heran.« Er hatte keine Zeit für Bäume. Er mußte sich um ein ganzes Volk kümmern. »Wie schlimm ist es im Norden?« »Schlimm«, antwortete eine Ogierfrau. »Die Fäule dehnt sich nach Süden aus, und man sieht dort jetzt Myrddraal und Trollocs.« »Ich glaubte, die seien alle tot.« Also dann nicht nach Norden. Sie konnten nicht nach Norden ziehen. Nach Süden? Das Jerenmeer lag zehn Tagesreisen im Süden. Oder befand es sich überhaupt noch dort? Er war müde, so müde.
»Ihr seid aus dem Osten gekommen?« fragte ein anderer Ogier. Er wischte seine Schüssel mit einem Stück Brotrinde aus und schlang sie herunter. »Wie sind die Zustände im Osten?« »Schlimm«, antwortete Jonai. »Allerdings vielleicht nicht so schlimm, was Euch betrifft. Zehn - nein, zwölf Tage ist es her, daß einige Leute ein Drittel unserer Pferde stahlen, bevor wir entkommen konnten. Wir mußten Wagen zurücklassen.« Das tat weh. Zurückgelassene Wagen mit Inhalt. Dinge, die von den Aes Sedai den Aiel anvertraut worden waren, waren nun zurückgelassen worden. Daß es nicht das erstemal geschehen war, machte es noch schlimmer. »Beinahe jeder, den wir treffen, stiehlt Sachen von uns, was ihnen gerade gefällt. Vielleicht werden sie das bei Ogiern nicht machen.« »Vielleicht«, sagte eine Ogierfrau, als könne sie das nicht ganz glauben. Jonai glaubte es vielleicht auch nicht -es gab eben einfach keinen wirklich sicheren Ort. »Wißt Ihr, wo sich irgendein Stedding befindet?« Jonai sah sie mit großen Augen an. »Nein. Nein, das weiß ich nicht. Aber sicher könnt Ihr doch ein Stedding finden, wenn Ihr wollt?« »Wir sind so weit gerannt und so lang«, sagte ein Ogier von hinten her, und ein anderer fügte in ihrem tiefen, grollenden Tonfall hinzu: »Das Land hat sich so verändert.« »Ich glaube, wir müssen bald ein Stedding finden, oder wir werden sterben«, sagte die Ogierfrau. »Ich fühle ein...
Sehnen... in mir. Wir müssen ein Stedding finden. Wir müssen einfach.« »Ich kann Euch nicht helfen«, sagte Jonai traurig. Seine Brust war wie zusammengeschnürt. Das Land hatte sich wirklich bis zur
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