Der Schatten erhebt sich
Erwachen einige Schwellungen aufweisen. Zweifellos weniger, als sie verdient hatte. Elayne wünschte sich, es gebe eine Möglichkeit, Temaile mitzunehmen. Wenigstens eine von ihnen sollte man der Gerechtigkeit der Weißen Burg überstellen. »Wir sind gekommen, und das unter erheblichen Risiken, um Euch hier herauszubringen. Dann könnt Ihr den Lordhauptmann der Legion der Panarchen und auch Andric und sein Heer benachrichtigen und mit ihrer Hilfe diese Frauen vertreiben. Vielleicht haben wir sogar Glück und können ein paar davon fangen und vor Gericht stellen. Aber zuerst müssen wir Euch vor ihnen in Sicherheit bringen.« »Ich brauche Andric nicht«, murrte Amathera. Elayne hätte schwören können, daß sie ganz leise das Wort ›jetzt‹ eingeflochten habe. »Soldaten aus meiner Legion sind rund um den Palast stationiert, das weiß ich. Man hat mir nicht erlaubt, mit ihnen zu sprechen, aber sobald sie mich sehen und meine Stimme hören, werden sie alles Notwendige unternehmen, ja? Ihr Aes Sedai könnt die Macht nicht zum Schaden anderer verwenden...« Sie ließ ihre Worte verklingen und funkelte die bewußtlose Temaile an. »Oder zumindest könnt Ihr sie nicht als Waffe einsetzen, oder? Ich weiß so etwas.« Elayne überraschte sich selbst, als sie ganz dünne Stränge von Luft verwob und damit jeden von Amatheras Zöpfen anhob. Die Zöpfe standen plötzlich senkrecht nach oben, und die Närrin mit dem Schmollmund hatte keine andere Wahl: Sie mußte den Kopf hochrecken und auf Zehenspitzen stehen. Elayne ließ sie genauso, auf Zehenspitzen, wie eine Tänzerin herankommen, bis die Frau mit weit aufgerissenen Augen und empörtem Blick direkt vor ihr stand.
»Ihr werdet mir jetzt zuhören, Panarchin Amathera von Tarabon«, sagte sie mit eisiger Stimme. »Wenn Ihr versucht, zu Euren Soldaten hinauszugehen, kann es sein, daß Temailes Busenfreundinnen Euch erwischen, zu einem Bündel verschnüren und ihr zurückgeben. Was noch schlimmer ist: Sie würden erfahren, daß sich meine Freundinnen und ich hier befinden, und das werde ich nicht zulassen. Wir werden uns hier hinausschleichen, und wenn Ihr etwas dagegen habt, fessle und kneble ich Euch und lasse Euch neben Temaile für ihre Freundinnen zurück.« Es mußte einfach eine Möglichkeit geben, auch Temaile mitzunehmen. »Habt Ihr mich verstanden?« Amathera nickte leicht, soweit es ihre hochgezogenen Zöpfe zuließen. Egeanin gab einen zustimmenden Laut von sich.
Elayne ließ die Stränge fahren und die Fersen der Frau klatschten auf den Boden herunter. »So, jetzt werden wir etwas zum Anziehen für Euch suchen, das sich zum Hinausschleichen eignet.« Amathera nickte wieder, doch ihr Mund hatte noch nie so geschmollt wie jetzt. Elayne hoffte nur, daß Nynaeve sich nicht mit solchen Schwierigkeiten abzugeben habe.
Nynaeve betrat die große Ausstellungshalle mit ihrer Vielzahl an schmalen Säulen und schwenkte sogleich ihren Staubwedel. Die unzähligen Ausstellungsstücke und Vitrinen mußten ja wohl ständig abgestaubt werden, und sicher würde niemand eine Frau genauer ansehen, die einfach das Notwendige hier erledigte. Sie blickte sich um. Ihr Blick wurde angezogen von dem durch Drähte zusammengehaltenen Knochengestell, das wie ein Pferd mit besonders langen Beinen wirkte, aber einen so langen Hals aufwies, daß der Schädel zwanzig Fuß höher saß. Der enorme Saal erstreckte sich völlig menschenleer in alle Richtungen.
Aber es konnte jeden Moment jemand hereinkommen -Diener, die man vielleicht wirklich zum Reinigen geschickt hatte, oder Liandrin mit ihrem Spießgesellinnen auf der Suche... So hielt sie wohl sicherheitshalber ihren Staubwedel auffällig in der Hand, eilte aber schnell hin zu dem weißen Steinpodest, auf dem das mattschwarze Halsband und die Armbänder lagen. Ihr war gar nicht klar, daß sie die Luft anhielt, bis sie erleichtert ausatmete, als sie sah, daß alles noch so dalag wie im Traum. Die Glasvitrine, in der das Cuendillar -Siegel lag, stand fünfzig Schritt weiter, aber dies hier hatte Vorrang.
Sie kletterte über das handgelenkstarke, weiße Seidenseil und berührte das breite, aus Einzelgliedern zusammengesetzte Halsband. Leid. Schmerz. Trauer. Diese Gefühle durchströmten sie, und sie hätte am liebsten geweint. Was war das, wenn es soviel Schmerz in sich aufnehmen konnte? Sie zog ihre Hand zurück und betrachtete das schwarze Metall finster. Es war also dazu da, einen Mann zu kontrollieren, der mit der Macht umgehen konnte.
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