Der Schatten erhebt sich
ihre Stadt vor den Schwarzen Ajah und die Welt vor dem Schatten zu retten. »Egeanin sollte mit dir gehen, Nynaeve. Deine Rolle ist wichtiger. Wenn eine von uns Rückendeckung braucht, dann bist du es.« »Ich brauche keine Seanchan!« Nynaeve schulterte ihren Staubwedel wie einen Spieß und schritt los, den Gang hinunter. Sie bewegte sich absolut nicht wie eine Dienerin. Ihr Schritt wirkte ausgesprochen militärisch.
»Sollten wir nicht auch ans Werk gehen?« fragte Egeanin. »Die Ausschreitungen werden nicht so schrecklich lang für Ablenkung sorgen.« Elayne nickte. Nynaeve war um eine Ecke verschwunden.
Die Treppe war eng und versteckt in die Wand eingebaut, damit die Diener sich so unsichtbar wie möglich bewegen konnten. Die Korridore im zweiten Stock unterschieden sich kaum von denen unten; lediglich führten die Doppelbögen hier nicht nur zu Zimmern, sondern auch hinaus auf steingeflieste Balkone. Als sie in den westlichen Teil des Palastes kamen, waren weniger Diener als zuvor zu sehen, und deren Blicke streiften sie nur flüchtig. Erfreulicherweise war das Foyer vor den Gemächern der Panarchin leer. Es standen keine Wachen vor der breiten Tür mit dem geschnitzten Baumwappen und den jeweils oben spitz zulaufenden Türflügeln. Nicht, daß sie ernstlich erwogen hatte, sich zurückzuziehen, falls Wachen dagewesen wären, gleich, was sie Nynaeve versprochen hatte, aber so war die Sache natürlich einfacher.
Doch einen Moment später war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Sie spürte nämlich, wie in diesen Gemächern jemand die Macht benutzte. Es waren keine starken Stränge, die da gewebt wurden, aber ganz entschieden wurde die Macht dazu benützt, oder es war ein älteres Gewebe, das nur erhalten wurde. Nur wenige Frauen kannten den Trick, wie man ein Gewebe verknotete.
»Was ist los?« fragte Egeanin.
Elayne wurde bewußt, daß sie stehengeblieben war. »Eine der Schwarzen Schwestern ist dort drinnen.« Eine oder mehrere? Jedenfalls benützte nur eine die Macht. Sie drückte sich an die Tür heran. Dort drinnen sang eine Frau. Sie legte das Ohr an die beschnitzte Holzoberfläche und hörte eine heisere Stimme, gedämpft, aber doch eindeutig zu verstehen:
»Meine Brüste gefieln jedem, den ich hatte! Ich geh mit ner ganzen Crew auf die Matte.« Überrascht zuckte sie zurück, so daß die Porzellanschüsseln unter dem Leintuch auf dem Tablett ins Rutschen kamen. War sie vielleicht zu den falschen Gemächern gekommen? Nein, sie hatte den Plan gut auswendig gelernt. Außerdem führte die einzige Tür im Palast, in die man das Wappen mit dem Baum geschnitzt hatte, eben nun mal zu den Gemächern der Panarchin.
»Dann müssen wir uns zurückziehen«, sagte Egeanin. »Ihr könnt nichts tun, ohne die anderen auf Eure Gegenwart aufmerksam zu machen.« »Vielleicht doch. Wenn sie bemerken, daß ich die Macht benütze, werden sie glauben, es sei die dort drinnen.« Sie runzelte die Stirn und biß sich auf die Unterlippe. Wie viele mochten sich drin befinden? Sie konnte ja gleichzeitig drei oder vier Dinge mit der Macht anstellen, was ansonsten höchstens Egwene und Nynaeve fertigbrachten. Sie ging im Geist die Liste jener andoranischen Königinnen durch, die angesichts von Gefahr besonderen Mut bewiesen hatten, bis ihr klar wurde, daß diese Liste alle Königinnen von Andor umfaßte. Ich werde eines Tages selbst Königin sein, also muß ich genauso tapfer und mutig sein wie sie. Sie machte sich also bereit und sagte: »Reißt die Tür auf, Egeanin, und dann laßt Euch fallen, damit ich alles überblicken kann.« Die Seanchanfrau zögerte. »Kommt schon, reißt die Tür auf.« Elaynes eigne Stimme überraschte sie. Sie hatte nichts bewußt damit auszudrücken versucht, doch sie klang leise, ruhig und überzeugend befehlsgewohnt. Und Egeanin nickte. Es war fast schon eine Verbeugung. Unmittelbar darauf riß sie wirklich die Türflügel vehement auf.
»›Meine Schenkel sind kräftig wie 'ne Ankerkette. Meine Lippen tun Dinge, die...« Die Sängerin stand bis an die dunklen Zöpfe durch Stränge von Luft gefesselt da. Sie trug ein schmuddeliges, verknittertes Taraboner Kleid aus roter Seide. Als die Türen aufschlugen, brach der Gesang abrupt ab. Eine zerbrechlich wirkende Frau, die auf einer langen Polsterbank in einem hellblauen, hochgeschlossenen Kleid, das aus Cairhien stammen mußte, geruht hatte, hörte auf, rhythmisch mit dem Kopf zu nicken und sprang auf. Wut verdrängte das Grinsen auf ihren
Weitere Kostenlose Bücher