Der Schatten erhebt sich
Macht erfüllte sie, ihre Lebenskraft verdoppelte sich in einem warmen Glücksgefühl, und sie webte die Stränge um Amico.
Nynaeve knurrte lediglich. Sie war wohl kaum wütend genug, um zu spüren, was Egwene tat, aber sie sah, wie sich Amico versteifte, als sie von den Strängen aus Luft berührt wurde, wie sie in sich zusammensackte, halb durch die Stränge aufrecht gehalten, als wolle sie zeigen, daß sie keinen Widerstand leistete.
Aviendha schauderte. Das passierte ihr immer, wenn sie wußte, daß in ihrer Umgebung die Macht benützt wurde.
Egwene webte Abschirmungen für Amicos Ohren, damit die beiden beim Verhör nicht hören konnten, was die jeweils andere sagte, und wandte sich Joiya zu. Sie wechselte den Fächer von einer Hand in die andere, um sie sich am Kleid trockenwischen zu können, und verzog dabei angewidert das Gesicht. Daß ihre Handflächen schweißnaß waren, lag nicht an den Temperaturen.
»Ihr Gesicht«, sagte Aviendha plötzlich. Das kam überraschend, denn sie sagte sonst nichts, außer sie wurde von Moiraine oder einer der anderen dazu aufgefordert. »Amicos Gesicht. Sie sieht nicht so aus wie vorher, als wäre sie vom Alter unberührt. Jedenfalls nicht in dem gleichen Maße wie vorher. Hat das damit zu tun, daß sie... einer Dämpfung unterzogen wurde?« endete sie atemlos. Sie hatte ihnen in dieser gemeinsamen Zeit einige Angewohnheiten abgeschaut. Keine Frau aus der Weißen Burg konnte ohne Schaudern von einer Dämpfung sprechen.
Egwene ging ein Stück am Tisch entlang, so daß sie Amicos Gesicht sehen konnte, ohne von Joiya beobachtet zu werden. Joiyas Blicke verwandelten ihren Magen immer wieder aufs neue in einen Eisklumpen.
Aviendha hatte recht: Genau das war der Unterschied, den sie selbst bemerkt hatte, ohne ihn freilich erklären zu können. Amico sah jung aus, vielleicht jünger, als sie tatsächlich war, aber es war nicht mehr ganz die glatte Alterslosigkeit der Aes Sedai, die schon jahrelang mit der Einen Macht gearbeitet hatte. »Du hast scharfe Augen, Aviendha, aber ich weiß nicht, ob es etwas mit der Dämpfung zu tun hat. Obgleich - es muß eigentlich schon daran liegen. Ich wüßte nicht, was das sonst ausgelöst haben könnte.« Ihr war klar, daß sich ihre Worte nicht nach denen einer Aes Sedai anhörten, die normalerweise sprach, als wüßte sie alles. Wenn eine Aes Sedai einmal zugab, daß sie etwas nicht wußte, dann verlieh sie ihren Worten ein Gewicht, als stecke ein enormes Wissen dahinter. Während sie sich das Gehirn zermarterte, weil ihr nichts einfiel, das beeindruckend genug geklungen hätte, kam ihr Nynaeve zur Hilfe: »Nur wenige Aes Sedai sind jemals ausgebrannt, und noch viel weniger hat man einer Dämpfung unterzogen.« ›Ausgebrannt‹ nannte man es, wenn es durch einen Unfall passiert war, eine ›Dämpfung‹, wenn es nach ordentlicher Gerichtsverhandlung als Strafe durchgeführt wurde. Egwene sah eigentlich keinen Sinn in dieser Unterscheidung. Es war für sie, als gebe es zwei verschiedene Ausdrücke für das Treppe-Herunterfallen, je nachdem, ob man stolperte oder gestoßen wurde. Die meisten Aes Sedai waren wohl der gleichen Meinung, außer wenn sie Novizinnen oder Aufgenommene unterrichteten. Nun, sie dachte sowieso nicht gern daran, besonders jetzt, wo es Rand gab und die Burg - hoffentlich - nicht wagte, ihn einer Dämpfung zu unterziehen.
Nynaeve hatte wieder in ihrem belehrenden Tonfall gesprochen, zweifellos, damit sie sich wie eine ausgebildete Aes Sedai anhörte. Sie ahmte Sheriam nach, ging es Egwene plötzlich durch den Sinn. Sheriam, wie sie vor der Klasse stand, die Hände in Hüfthöhe gefaltet, und leicht lächelte, als sei alles so schrecklich einfach, wenn man sich nur Mühe gab.
»Die Dämpfung ist kein Thema, dem sich irgend jemand gerne widmen würde, mußt du wissen«, fuhr Nynaeve fort. »Man hält sie im allgemeinen für endgültig. Was einer Frau die Fähigkeit verleiht, die Macht zu benützen, kann nicht ersetzt werden, sobald es einmal entfernt wurde, genausowenig wie man eine abgeschlagene Hand wieder ersetzen kann.« Zumindest war bisher niemand in der Lage gewesen, eine Dämpfung wieder rückgängig zu machen. Es hatte schon Versuche gegeben. Was Nynaeve sagte, entsprach also im allgemeinen der Wahrheit, doch einige der Braunen Schwestern würden alles studieren, wenn man ihnen die Möglichkeit gab, und einige Gelbe Schwestern, die besten Heilerinnen, würden nur zu gern alles heilen können. Aber es gab bisher
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