Der Schatten erhebt sich
eben noch nicht den geringsten Hinweis darauf, daß man eine Frau heilen konnte, die einer Dämpfung unterzogen worden war. »Abgesehen von dieser Tatsache weiß man noch sehr wenig. Frauen, die man einer Dämpfung unterzogen hat, leben selten länger als noch ein paar Jahre. Sie scheinen allen Lebensmut zu verlieren und geben auf. Wie ich sagte: Es ist ein unangenehmes Thema.« Aviendha rutschte unruhig hin und her. »Ich dachte eben nur, es könne daher rühren«, sagte sie mit leiser Stimme.
Egwene hielt das für sehr wohl möglich. Sie beschloß, Moiraine danach zu fragen - falls sie die Aes Sedai jemals antraf, wenn Aviendha nicht zugegen war. Ihr schien, daß ihr Täuschungsmanöver langsam ebenso hinderlich wurde, wie nützlich.
»Sehen wir zu, ob Joiya noch immer die gleiche Geschichte erzählt wie vorher.« Allerdings mußte sie sich selbst erst wieder unter Kontrolle bringen, bevor sie daran gehen konnte, die Stränge von Luft um die Schwarze Schwester herum zu lockern.
Joiya hätte eigentlich ganz steif sein müssen von dem langen Stillstehen, aber sie drehte sich ungerührt zu ihnen um. Der Schweiß auf ihrer Stirn tat ihrer Würde und Ausstrahlung keinen Abbruch, und nicht einmal das fade, grobe Kleid hätte den Eindruck geschmälert, daß diese Frau sich aus freiem Willen und nicht als Gefangene hier befand. Sie war eine recht gut aussehende Frau, die trotz der Alterslosigkeit ihres glatten Gesichts etwas Mütterliches an sich hatte, etwas Beruhigendes. Doch die dunklen Augen ließen die eines Habichts noch freundlich erscheinen. Sie lächelte sie an, aber das Lächeln erreichte die Augen nicht. »Das Licht leuchte Euch. Möge Euch die Hand des Schöpfers beschützen.« »Das will ich nicht noch mal von Euch hören!« Nynaeves Stimme klang ruhig und leise, doch sie warf mit einem Kopfrucken ihren Zopf nach vorn und packte das Ende mit der Faust. Das tat sie nur, wenn sie entweder unsicher oder zornig war, und Egwene glaubte nicht an Unsicherheit in diesem Fall. Joiya schien auf Nynaeve nicht so beängstigend zu wirken wie auf Egwene.
»Ich habe meine Sünden bereut«, sagte Joiya verbindlich. »Der Drache wurde wiedergeboren und hält Callandor in Händen. Die Prophezeiung wurde erfüllt. Der Dunkle König muß untergehen. Das sehe ich jetzt ein. Meine Reue ist echt. Niemand kann so lange im Schatten wandeln, daß er nicht wieder zum Licht zurückkehren könnte.« Nynaeves Gesicht war bei jedem Wort dunkler angelaufen. Egwene war sicher, daß sie nun wütend genug war, um die Macht benützen zu können, aber falls sie das tat, würde sie möglicherweise lediglich Joiya erwürgen. Egwene glaubte natürlich genausowenig wie Nynaeve an Joiyas Reue. Aber die Worte von dieser Frau konnten durchaus auch der Wahrheit entsprechen. Man konnte ihr durchaus zutrauen, daß sie kaltblütig umschwenkte auf die Seite, von der sie glaubte, sie werde am Ende gewinnen. Oder sie wollte sich Zeit erkaufen und lügen in der Hoffnung, doch noch gerettet zu werden.
Lügen sollten einer Aes Sedai eigentlich nicht möglich sein, selbst einer, die alles Anrecht auf diesen Titel verwirkt hatte. Jedenfalls offene Lügen. Dafür hätte der erste der Drei Eide sorgen sollen, den man mit der Eidesrute in der Hand schwören mußte. Aber welche Eide man auch als Schwarze Ajah auf den Dunklen König leisten mußte, sie schienen jedenfalls alle Bindungen an die Drei zertrennt zu haben.
Nun gut. Die Amyrlin hatte sie ausgesandt, um die Schwarzen Ajah zu jagen, Liandrin und die zwölf anderen, die gemordet hatten und dann aus der Burg geflohen waren. Und alles, woran sie sich nun halten konnten, waren die Aussagen dieser beiden Gefangenen.
»Erzählt uns noch mal Eure Geschichte«, befahl Egwene. »Benützt diesmal aber andere Worte. Ich habe es satt, auswendig gelernte Geschichten anzuhören.« Falls sie gelogen hatte, war es möglich, daß sie ins Stolpern kam, wenn sie die Geschichte anders erzählen mußte. »Wir werden Euch genau zuhören.« Das letzte galt Nynaeve, die daraufhin vernehmlich schniefte, aber schließlich kurz nickte.
Joiya zuckte die Achseln. »Wie Ihr wünscht. Laßt mich sehen. Andere Worte. Der falsche Drache, Mazrim Taim, der in Saldaea gefangengenommen wurde, kann die Macht mit unglaublicher Stärke gebrauchen. Vielleicht ist er sogar genauso stark wie Rand al'Thor, oder jedenfalls nicht viel weniger, wenn man den Berichten Glauben schenken kann. Liandrin will ihn befreien, bevor man ihn nach Tar Valon
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