Der Schatten erhebt sich
trocken. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, wedelte sie heftig mit ihrem Fächer. Es verblüffte sie selbst, wie leicht ihr solche Worte mittlerweile über die Lippen kamen. Ihr Magen verkrampfte sich bei diesem Gedanken immer noch, und eisige Finger glitten ihr Rückgrat hinunter, doch sie verspürte nicht mehr den Wunsch, zu schreien oder weinend hinauszurennen. Man konnte sich wohl an nahezu alles gewöhnen.
»Ich habe einmal Liandrin belauscht, als sie mit Temaile sprach«, sagte Amico müde. So begann sie erneut, die Geschichte zu erzählen, die sie schon viele Male zum besten gegeben hatte. In den ersten Tagen ihrer Gefangenschaft hatte sie versucht, ihre Geschichte auszuschmücken, aber je mehr sie hinzugefügt hatte, desto stärker hatte sie sich in Lügen verstrickt. Nun erzählte sie jedesmal fast genau das gleiche, Wort für Wort. »Wenn Ihr Liandrins Gesicht gesehen hättet, als sie mich erblickte... Sie hätte mich auf der Stelle umgebracht, wenn sie geahnt hätte, daß ich etwas gehört hatte. Und Temaile fügt anderen gern Schmerzen zu. Es macht ihr Spaß. Ich hatte auch nur wenig gehört, bevor sie mich sahen. Liandrin meinte, da gebe es etwas in Tanchico, was gefährlich sei für... für ihn.« Sie meinte Rand damit. Seinen Namen konnte sie nicht über die Lippen bringen und jede Erwähnung des ›Wiedergeborenen Drachen‹ ließ sie in Tränen ausbrechen. »Liandrin sagte auch, es sei genauso gefährlich für jeden, der es benützen wollte. Beinahe so gefährlich jedenfalls wie für... ihn. Deshalb war sie noch nicht selbst hingereist. Und sie sagte, seine Fähigkeit, die Macht zu gebrauchen, würde ihn nicht schützen. Sie sagte: ›Wenn wir es finden, wird ihn seine schmutzige Fähigkeit selbst fesseln und uns die Arbeit abnehmen.‹« Schweiß rann ihr über das Gesicht, doch sie zitterte fast unkontrolliert dabei. Kein Wort hatte sich geändert.
Egwene öffnete den Mund, doch Nynaeve kam ihr zuvor: »Ich habe genug davon. Wir sollten hören, ob uns die andere etwas Neues zu sagen hat.« Egwene sah sie böse an, und Nynaeve erwiderte den Blick. Keine von beiden gab nach. Manchmal hält sie sich immer noch für unsere Seherin, dachte Egwene grimmig, und ich bin immer noch das Dorfmädchen, dem sie etwas über Kräuter beibringen will. Sie sollte langsam merken, daß sich die Lage geändert hat. Nynaeve war stark, wenn es um die Verwendung der Macht ging, stärker als Egwene, doch nur dann, wenn sie es tatsächlich fertigbrachte, mit der Macht zu arbeiten. Doch wenn sie nicht gerade wütend war, ging bei Nynaeve gar nichts.
Elayne wirkte meistens als das ausgleichende Element, wenn es zu Auseinandersetzungen kam, was sowieso viel zu häufig der Fall war. Bis Egwene gewöhnlich auf den Gedanken kam, Kompromisse einzugehen und die Lage zu entspannen, war ihr Temperament meist schon mit ihr durchgegangen, und dann wollte sie nicht mehr nachgeben. So mußte es Nynaeve auch empfinden, soviel war ihr klar. Sie konnte sich nicht daran erinnern, daß Nynaeve einmal auch nur den Ansatz eines Nachgebens gezeigt hatte. Warum also sollte sie nachgeben? Diesmal war Elayne nicht dabei, denn Moiraine hatte die Tochter-Erbin mit einer kurzen Geste und einem leisen Wort gebeten, der Tochter des Speers zu folgen, die die Aes Sedai abholen wollte. Ohne ihre Anwesenheit stieg die Anspannung deutlich und jede der beiden Aufgenommenen wartete nur darauf, daß die andere ein Zeichen der Schwäche zeigte. Aviendha wagte kaum zu atmen. Sie hielt sich strikt aus den Auseinandersetzungen heraus; zweifellos schien ihr das schlicht das Klügste.
Seltsamerweise war es Amico, die diesmal die Auseinandersetzung beendete, obwohl sie sicher damit offensichtlich nur ihre Bereitschaft zur Mitarbeit demonstrieren wollte. Sie wandte sich zur Wand um und wartete geduldig darauf, wieder gebunden zu werden.
Egwene kam die Widersinnigkeit der Situation urplötzlich zu Bewußtsein. Sie war die einzige Frau im Raum, die im Moment die Macht gebrauchen konnte - es sei denn, Nynaeve wurde wütend oder Joiyas Abschirmung versagte, weshalb sie das Gewebe aus Geist noch einmal ganz unbewußt überprüfte - und da ließ sie sich auf ein stummes Kräftemessen ein, während Amico darauf wartete, daß man sie fesselte. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie schallend gelacht, doch nun öffnete sie sich Saidar, der unsichtbaren Macht, der immer spürbaren Wärme, die sich gerade außerhalb ihrer bewußten Wahrnehmung breit machte. Die Eine
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