Der Schatten im Norden
Die Freunde waren verletzt worden, und sie
hatte Mackinnon entwischen lassen... »Hast du irgendwas
herausgekriegt?«, fragte Frederick, schon wieder auf den
Beinen.
»Ja, allerdings. Nehmen wir eine Droschke und fahren
wir nach Hause - ich möchte diese Schnittwunde
versorgen. Und Jims Mund wird bestimmt wehtun. Ich
hoffe, wir haben noch etwas Branntwein zu Hause. «
»Wirklich schade, dass man uns rausgeworfen hat«,
witzelte Frederick. »Ich hätte gerne Senor Chavez, den
Mann ohne Knochen, gesehen. «
»Den hab ich schon mal gesehen«, murmelte Jim.
»Lohnt sich nicht. Der Typ steht auf den Händen und
steckt sich ein Bein ins Ohr, das ist alles. Was hast du
denn rausgekriegt, Sally?«
In einer vierrädrigen Kutsche ein paar Straßen weiter
saßen die Herren Harris und Sackville und hörten sich
eine Standpauke von Mr. Windlesham an. Freilich hörten
sie nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu;
Sackville, der mit Fredericks Stock Bekanntschaft
gemacht hatte, war noch benebelter als sonst, und Mr.
Harris, dessen Nase Jims Schlagring zu Brei verwandelte
hatte, war damit beschäftigt, mit einem Taschentuch das
Blut von seiner Hemdenbrust zu wischen.
Mr. Windlesham schaute die beiden angewidert an,
dann klopfte er gegen das Kutschendach. Die Kutsche
verlangsamte ihre Fahrt. »Wir sind doch noch gar nich
da«, sagte Sackville. »Scharfer Beobachter«, sagte Mr.
Windlesham. »Doch die Nacht ist so still und klar. Ein
kleiner Spaziergang wird euch gut tun. Ich habe den
Eindruck, dass eure Talente eher im Erschrecken von
Damen als im Kampf mit Männern liegen. Sollte das
tatsächlich der Fall sein, hätte ich einen weiteren Einsatz
für euch, oder auch nicht. Das hängt davon ab, wie
pünktlich ihr morgen früh seid. Sieben Uhr in meinem
Büro und keine Minute später. Und keine Blutflecken auf
der Klinke des Wagenschlags, Harris, machen Sie das
alles sauber. Aber nicht mit Ihrem triefenden
Taschentuch, machen Sie das gefälligst mit Ihrem
Rockschoß. Gute Nacht. « Unter Murren und Stöhnen
trollten sich die beiden Schläger die Drury Lane hinunter.
Mr. Windlesham befahl dem Kutscher, ihn zum Hyde
Park Gate zu bringen. Sein Chef, so dachte er, werde
seinen Bericht über die Ereignisse des heutigen Abends
gewiss mit großem Interesse aufnehmen.
WUNSCHTRÄUME DER MENSCHEN
»So, was wissen wir nun?«, fragte Frederick, während
er zur Marmelade griff. Am Morgen nach dem Besuch
im Varietee frühstückten er und Jim mit Sally im
Tavistock Hotel in Covent Garden. »Mackinnon
behauptet, er sei der illegitime Spross Lord Wythams als
Folge einer Liaison, die der Lord mit Nellie Budd
unterhielt. Das wäre durchaus möglich. «
»Das Gleiche hat er auch Miss Meredith aufgetischt«,
hob Jim hervor. »Zwar hat er den Namen von Vater und
Mutter verschwiegen, aber die Geschichte ist dieselbe.
Allerdings ist das keine Erklärung dafür, warum
Bellmann hinter ihm her ist. Es sei denn, er kann ihn sich
nicht als Schwager vorstellen. Was ich ihm nicht
verdenken kann. «
»Die Erbschaftsfrage«, sagte Sally. »Irgendetwas war
doch da. Doch als uneheliches Kind dürfte er keine
Chancen haben. Was könnte er überhaupt von Wytham
erben?«
»Herzlich wenig«, warf Frederick ein. »Der Mann ist
bankrott oder doch so gut wie. Alles, was er noch hat, ist
mit Hypotheken belastet. Und jetzt ist er auch noch aus
dem Kabinett geflogen... Ich weiß nicht, irgendwie ist er
ein trübseliger Geselle. Ich persönlich ziehe Nellie Budd
vor. Kein Wunder, dass sie stutzte, als ich Mackinnon
erwähnte. «
»Und diese North-Star-Sache, was ist das für eine
Kiste?«, fragte Jim.
»North Star, Maschinenfabrik und Eisengießerei«, sagte
Sally. »Ist an der Börse nicht notiert. Ich gehe morgen
diese Mrs. Seddon in Muswell Hill besuchen. Heute
Morgen gehe ich zu Mr. Gurney und frage ihn über
Psychometrie aus. Außerdem muss ich zwischendurch
auch einmal seriöse Arbeit erledigen. « »Ja, ich werde ein
bisschen im Regierungsviertel herumschnüffeln«, sagte
Frederick. »Mal sehen, was ich über Wytham
herausbekommen kann. Und dann besuche ich noch
einmal Nellie Budd. Das Geschäftliche klären, denn
langsam wird es Zeit, dass ich bei diesem Fall auch mal
Geld verdiene. Bis jetzt habe ich dabei nur meine Uhr
eingebüßt. «
»Da bist du noch gut dran, Kumpel«, klagte Jim, der
wieder seinen lädierten Mund spürte. »Für dreißig Eier
kannst du dir eine neue kaufen, wohingegen Zähne nicht
so leicht zu ersetzen sind. Wie du die
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