Der Schatten im Norden
griff im Regal nach einem großen Ordner mit
Zeitungsausschnitten und Notizen. »Verblüffend!«, rief
er. »Sie haben gerade beschrieben, was 1871 im Fall
Blackburn geschehen ist. Wenn hier das gleiche
Phänomen wieder auftauchen würde, wäre das
wissenschaftlich hochinteressant. Schauen Sie selbst... «
Sie las die Ausschnitte durch, die alle akribisch datiert
und kommentiert waren. Tatsächlich bestand große
Ähnlichkeit zwischen beiden Fällen, obgleich die Vision
des Perzipienten im Fall Blackburn lediglich darin
bestand, dass sein Bruder einem Eisenbahnunglück
entgangen war.
»Über wie viele Fälle haben Sie denn Notizen gemacht,
Mr. Gurney?«, wollte Sally wissen.
»Tausende. Es würde ein Wissenschaftlerleben
ausfüllen, sie alle zu sortieren und zu analysieren... «
»Vielleicht sollten Sie sich eher damit beschäftigen als
mit Medizin. Aber auf eines muss ich sie noch
aufmerksam machen. Diese Phänomene, was sie im
Einzelnen auch sein mögen, scheinen am Rande einer
kriminellen Verschwörung stattzufinden. Ich weiß, dass
Sie gern darüber schreiben würden, aber könnten Sie mit
der Veröffentlichung warten, bis die Gefahr vorüber ist?«
Seine Augen weiteten sich. »Eine kriminelle
Verschwörung?« Sie erläuterte ein wenig den
Hintergrund, und er hörte gespannt zu.
»Das ist es also, was in Cambridge ausgebildet wird«,
sagte er schließlich. »Weibliche Detektive. Das hat den
Vätern des Universitätsstudiums für Frauen wohl nicht
vorgeschwebt... Ja, selbstverständlich halte ich mich an
Ihren Rat. Aber in wissenschaftlichen Mitteilungen ist es
sowieso üblich, Pseudonyme zu benutzen. Unglaublich!
Betrug... Mord... Vielleicht sollte ich doch besser bei der
Musik bleiben. «
Erst am Nachmittag fand Frederick Zeit, nach Streatham
zu gehen. Er hatte einige interessante Dinge durch das
einfachste Rechercheverfahren herausgefunden - er hatte
Leute gefragt, von denen er sich Auskünfte versprach:
Bürojungen, Boten und andere. Der Klatsch, den er auf
diese Weise mitbekam, ging dahin, dass Lord Wythams
politische Karriere beendet sei, aber dafür sein Stern in
der Welt der Finanzen aufgehe. Er habe dem Vernehmen
nach einen Posten im Vorstand einer aufstrebenden
Firma namens North Star oder ähnlich erhalten.
Dann hatte sich Frederick mit dem neuen
Unterstaatssekretär im Außenministerium unterhalten...
Alles in allem hatten sich das morgendliche Palaver und
ein halbes Dutzend Tassen faden Kaffees doch gelohnt.
Der Nachmittag war kalt und grau, und ein Nieselregen
machte den Weg nach Streatham noch ungemütlicher.
Frederick freute sich darauf, Nellie Budd daheim in der
ruhigen Straße wieder zu sehen, in der sie wohnte.
Nur war sie diesmal überhaupt nicht ruhig. Schaulustige
drängten sich vor ihrer Haustür, während vor dem Tor
ein vierrädriger Ambulanzwagen wartete. Ein
Polizeioffizier und zwei Wachtmeister waren gerade
dabei, den Weg von der Tür zur Ambulanz für zwei
Männer mit einer Bahre frei zu machen. Die Menge teilte
sich und ließ eine Gasse frei.
Frederick steuerte auf den Eingang zu. Ein uniformierter
Inspektor, der einen strengen, aber kompetenten
Eindruck machte, hatte seine Absicht erkannt. Als die
Bahre in der Ambulanz verschwunden war, ging der
Inspektor auf Frederick zu. Auch die Zuschauer drehten
neugierig die Köpfe.
»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?«, fragte der
Inspektor. »Wollten Sie hier jemanden besuchen?«
»Ich bin hergekommen, um einer Dame, die hier wohnt,
einen Besuch abzustatten«, sagte Frederick. »Einer Mrs.
Budd. « Der Inspektor schaute zur Ambulanz hinüber,
nickte den Sanitätern zu, die daraufhin die Türen
schlössen, und wandte sich wieder Frederick zu.
»Würden Sie bitte für einen Augenblick ins Haus
kommen?«
Frederick folgte ihm in den engen Flur, wo ein
Wachtmeister hinter ihm die Tür schloss. Ein wie ein
Arzt aussehender Mann kam aus dem Wohnzimmer;
Frederick hörte nebenan ein Mädchen weinen. »Ist sie
vernehmungsfähig?«, erkundigte sich der Inspektor.
»Wenn Sie es rasch machen, ja«, sagte der Arzt. »Ich
habe ihr einen Schlaftrunk verabreicht, um sie zu
beruhigen. In ein paar Minuten wird sie sich schläfrig
fühlen. Man sollte sie jetzt ins Bett bringen. « Der
Inspektor nickte. Er öffnete die Tür und bedeutete
Frederick mitzukommen. Auf Mrs. Budds Sofa saß das
vielleicht sechzehnjährige Hausmädchen mit rot
geweinten Augen und immer noch von Schluchzern
geschüttelt.
»Es ist doch alles wieder gut, Sarah«, versuchte sie
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