Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
Grausamkeit
besitzen konntest, Räucherlachs und Toast einem armen
Menschen anzubieten, dessen demolierte Kauwerkzeuge
höchstens Haferbrei vertragen, das werde ich nie
verstehen. Aber diesem Schläger wird die eingematschte
Nase wehtun, und das tröstet mich ein bisschen. «
Mr. Gurney, von dem Sally sprach, war ein Mann, den
sie in Cambridge kennen gelernt hatte. Miteinander
bekannt gemacht hatte sie ein Mr. Sidgwick, ein
Philosoph, der viel zur Förderung der Frauenbildung
beigetragen, aber auch Interesse an Psychiatrie hatte. Mr.
Gurney hatte auf diesem Feld eigene Forschungen
betrieben, und da er gar nicht weit von ihr in Hampstead
wohnte, hatte sie gedacht, einmal bei ihm
vorbeizuschauen. Sie traf ihn im Studierzimmer seiner
hübschen Villa an, auf dem Tisch Notenblätter und
daneben eine Geige im offenen Koffer. Er war ein ernster
Mann um die Dreißig mit großen Augen und seidigem
Bart.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie beim Musizieren
gestört habe«, sagte sie. »Aber ich muss etwas
herausfinden und kenne sonst niemanden, den ich fragen
könnte... «
»Beim Musizieren? Ich werde nie ein echter Musiker
sein, Miss Lockhart. Diese Sonatine ist schon das
Höchste, wozu sich mein Ehrgeiz versteigt, und zugleich
die Grenze meines Könnens. Ich schlage jetzt eine neue
Richtung ein: Die Medizin ist mein Feld. Aber was kann
ich für Sie tun?«
Er war ein reicher Dilettant, der sich schon mit
Geisteswissenschaft, Jura und Musik befasst hatte. Sally
bezweifelte, dass die Medizin das Passende für ihn sei.
Aber er besaß einen scharfen Verstand und beträchtliche
Kenntnisse auch in Randbereichen der Psychologie und
Philosophie. Als Sally schilderte, worum es ging und was
während Nellie Budds spiritistischer Séance in Streatham
geschehen sei, da spitzte er die Ohren und zeigte
lebhaftes Interesse. »Telepathie«, sagte er. »Allem
Anschein nach ist es das, was Ihre Mrs. Budd erfährt. «
»Tele - das ist Griechisch. Wie in Telegraf. Was
bedeutet das?« »Damit bezeichnet man das Phänomen,
dass jemand in seinem Geist von Eindrücken einer
anderen Person Kenntnis erhält. Wahrnehmungen,
Gefühle, Sinneseindrücke - nichts Strukturiertes wie
bewusste Gedanken. Bis jetzt jedenfalls... «
»Aber gibt es diese Fähigkeit denn wirklich? Hat sie
jeder Mensch?« »Das Phänomen der außersinnlichen
Wahrnehmung existiert. Hunderte von Fällen sind belegt.
Das heißt aber nicht, dass dafür eine Fähigkeit vorhanden
ist. Wir würden diesen Begriff auch nicht für jemanden
verwenden, der von einer Kutsche überfahren wird; wir
würden nicht sagen, er habe die Fähigkeit, überfahren zu
werden. Es scheint eher etwas zu sein, was mit uns
geschieht, und nicht etwas, was wir selber tun. «
»Ich verstehe. Sie könnte Eindrücke erhalten, ohne sich
dessen bewusst zu sein. Aber wäre dann das Aussenden
solcher Eindrücke vom Willen gesteuert? Oder weiß der
Sender ebenso wenig, was er tut?«
»Das Agens, so nennen wir es. Darüber scheint es
wenige Anhaltspunkte zu geben, Miss Lockhart. Ich
würde nur so viel sagen, dass es gewöhnlich zwischen
Personen geschieht, die sich nahe stehen. « »Aha... Dann
ist da noch etwas Seltsames. Es hängt damit zusammen,
aber ich weiß noch nicht wie. «
Sie erzählte Mr. Gurney von Mackinnons Vision eines
Duells im Schnee und wie diese Vision ausgelöst worden
sei, nämlich durch das Berühren eines Zigarrenetuis.
»Ja«, bestätigte Mr. Gurney, »auch solche Phänomene
sind belegt. Was für ein Mensch ist der Perzipient, der
Mann, der die Vision hatte?«
»Kein sehr glaubwürdiger. Er ist ein Zauberkünstler ---
übrigens ein sehr guter. Ob es im Zusammenhang damit
steht, weiß ich nicht, aber es scheint unmöglich zu
entscheiden, wann er die Wahrheit spricht. Noch eine
Frage: Tritt dieses Phänomen nur ein, wenn der
Perzipient etwas berührt, was der anderen Person
wirklich physisch gehört? Oder ginge es auch mit einem
anderen Gegenstand, sofern er indirekt mit ihr in
Zusammenhang steht?« »Was denn zum Beispiel?«
»Nun, eine Zeitungsmeldung. Einen Ausschnitt, der
etwas mit der Vision zu tun haben könnte, aber keine
Namen nennt. Könnte das eine psychometrische
Wahrnehmung auslösen? Oder nehmen wir einmal
Folgendes an: Der Perzipient hatte eine Vision, und
später stößt er zufällig auf eine Zeitungsmeldung, die
zwar nicht offen von dieser Vision spricht, aber doch
einen Bezug dazu hat. Könnte er dann sagen, das beides
miteinander verbunden ist?« Mr. Gurney sprang erregt
auf und

Weitere Kostenlose Bücher