Der Schatten im Norden
das
Warten gewöhnt. Er hatte den ganzen Donnerstag und
den Freitagmorgen gewartet und hätte, wenn nötig auch
die ganze Woche darangesetzt. Sein Besuch in der
Bibliothek des Patentamts war insofern aufschlussreich
gewesen, als er nun wusste, dass sie gelegentlich auch
ohne den Hund ausging.
Doch die vor Menschen wimmelnden Bürgersteige der
Fleet Street oder des Strand waren für die Ausübung
seines Handwerks denkbar ungeeignet. Er beobachtete
sie aus der sicheren Deckung seiner Zeitung, als sie in
dem kleinen Teesalon in der Villiers Street saß, und
fragte sich, ob sich eine Gelegenheit bieten würde, sie
allein zu überraschen, oder ob er den Hund mit in Kauf
nehmen müsse. Sie war hübsch, das musste er zugeben.
Hübsch auf eigentümliche Weise, halb englisch ---
blondes Haar, schlanke Figur, schnörkellose, praktische
Kleidung --- und halb wiederum nicht --- die dunklen
Augen, die Kühnheit und Entschlossenheit in allen ihren
Bewegungen. Junge Amerikanerinnen waren so, während
dieser Frauentyp für England ungewöhnlich war. Ein
Grund mehr für ihn, nach Amerika zu gehen. Und ein
Grund mehr, sie zu beseitigen und das Geld zu kassieren.
Trotzdem schade.
Auch den Rest des Tages beschattete er sie weiter. Er
nahm eine Droschke, um dem pferdebespannten
Omnibus zu folgen, der sie nach Islington brachte,
wartete dann draußen, bis sie mit dem Hund aus der
Wohnung kam, und folgte ihr in diskretem Abstand auf
ihrem Spaziergang. Immer wenn sich die Gelegenheit
ergab, glitt er in einen Hauseingang und wechselte die
Melone gegen eine flache Schirmmütze, die er in einer
Ledertasche trug, oder wendete seinen Mantel, um mit
einem andersfarbigen Tweedmuster wieder auf die Straße
zu treten. Sie merkte nichts. Sie schien ohne festes Ziel
einfach spazieren zu gehen, begleitet von diesem
geduldigen Hundevieh, das glücklich neben ihr
hertrottete.
Ihr Weg führte sie zur neuen Schiffsanlege, wo sie den
Arbeitern zuschaute, die dort den kolossalen Obelisken
aufstellten, der erst kürzlich von Ägypten
herübergebracht worden war. Während sie das präzise
Arbeiten der Männer auf der Baustelle zu bewundern
schien, beobachtete Mr. Brown den Hund.
Dann war sie wieder in Richtung Chancery Lane
gewandert, wo sie eine halbe Stunde in einem Teesalon
verbrachte. Diesmal war der Salon jedoch zu klein, um
ihr unbemerkt zu folgen. So musste er auf dem
gegenüberliegenden Bürgersteig auf und ab gehen und
sie indirekt über die Spiegelungen in den Schaufenstern
beobachten. Eine Kellnerin brachte ihr Tee und für den
Hund einen Napf mit Wasser. Sie schien etwas zu
schreiben, vielleicht einen Brief? Tatsächlich war sie
dabei, sich alle möglichen Konsequenzen klarzumachen,
die sich aus Bellmanns Patentdiebstahl ergeben könnten.
Dabei wurde ihr klar, dass sie wieder einmal Mr.
Tempels Rat brauchte und dass sie mit Frederick reden
müsse.
Wieder auf der Straße, bemerkte sie nicht die anonyme
Gestalt im grauen Tweed, obgleich sie keinen Meter
entfernt an ihm vorbeiging. Er folgte ihr wieder, erst
durch Holborn und Bloomsbury, vorbei am Britischen
Museum und in eine Straße, wo sie mehrere Minuten vor
dem Schaufenster eines Fotoateliers blieb und vermutlich
die Auslagen studierte. Bei einbrechender Dunkelheit
folgte er ihr dann durch stille Wohnstraßen bis zu ihrem
Zuhause in Islington.
Der Hund.
Keine Frage, das Tier machte ihm Angst, kolossal, wie
es war, mit einem Maul, so groß, dass ein Kopf
hineingepasst hätte. Als Berufskiller sah er Angst als
Warnsignal, daher kalkulierte er umso sorgfältiger
Risiken und Chancen. Rasch und präzise zu arbeiten
reichte hier nicht, er musste schon beinahe unverwundbar
sein. Und was seinen Stolz auf sein gediegenes
Handwerk betraf, so kam das bei einem Tier nicht in
Betracht. Also das Messer für das Mädchen, aber für den
Hund der Revolver.
Er trug keine Schusswaffe bei sich, wusste aber, wo er
sich umgehend eine beschaffen konnte. Eine Stunde nach
Sallys Heimkehr stand Mr. Brown wieder unter den
Platanen des Platzes unweit ihrer Wohnung. Er wusste,
sie würde später noch einmal herauskommen und mit
dem Hund Gassi gehen, ehe sie ihn für die Nacht
einsperrte.
In technischer Hinsicht bestand die besondere
Herausforderung darin, Messer und Revolver möglichst
rasch hintereinander einzusetzen. Auch dafür gäbe es
sicherlich einen Markt drüben in Amerika... Er setzte sich
und wartete.
Um halb acht störte das Geräusch einer sich öffnenden
Tür die abendliche Stille des
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