Der Schatten im Norden
viele Wolldecken sie auch
übereinander legte, ihr Zittern verließ sie nicht.
Am darauf folgenden Morgen ging sie als Erstes in ihr
Büro --- und fand es leer.
Es war über Nacht ausgeräumt worden.
Alle Aktenordner, die abgehefte Korrespondenz, die
Mappen, die sie für jeden Klienten angelegt hatte mit
genauen Angaben über Wertpapierbesitz und
Sparguthaben --- alles war verschwunden. Die Regale
waren leer gefegt, die Schubladen des Büroschranks
gähnten leer.
Ihr schwindelte, ihr war, als hätte sie die falsche Bürotür
geöffnet. Aber nein, ein Irrtum war ausgeschlossen, da
standen ihr Tisch, ihre Stühle und das durchgesessene
Sofa. Sie lief hinunter zum Büroleiter des Hausbesitzers.
»Wo sind meine Akten? Was ist passiert?«
Für einen Augenblick malte sich auf seinem Gesicht
vollständiges Entsetzen --- so als sei ihm ein Geist
erschienen. Gleich darauf aber wurde er kalt und
abweisend.
»Dazu kann ich leider gar nichts sagen. Außerdem habe
ich alarmierende Dinge über die Art und Weise gehört,
wie Sie ihr Büro nutzen. Als die Polizei heute Morgen
kam... « »Die Polizei? Wer hat die Polizei gerufen? Und
was wollte sie?« »Ich habe es nicht für geraten gehalten,
danach zu fragen. Sie haben Akten mitgenommen und...«
»Sie haben zugelassen, dass mein Eigentum aus meinem
Büro weggeschafft wurde. Haben Sie eine Bescheinigung
erhalten?« »Ich werde doch nicht einen Polizeioffizier
bei der Ausführung seiner Amtspflichten behindern. Im
Übrigen verbitte ich mir diesen Ton, Miss. «
»Hatten diese Polizisten wenigstens einen
Durchsuchungsbefehl? In wessen Namen haben sie sich
Zugang in mein Büro verschafft?« »Im Namen der
Königin. «
»In diesem Fall mussten sie einen Durchsuchungsbefehl
haben. Haben Sie ihn gesehen?« »Natürlich nicht. Das
war nicht meine Sache. « »Von welcher Polizeiwache
kamen denn die Männer?« »Ich habe keine Ahnung.
Außerdem... «
»Sie lassen also zu, dass Männer in mein Büro
eindringen und mein Eigentum wegschaffen, ohne nach
einer Bescheinigung zu fragen und ohne den
Durchsuchungsbefehl gesehen zu haben. Wir sind hier in
England, Sir. Sie haben doch wohl schon einmal von
einem Durchsuchungsbefehl gehört, oder? Woher wissen
Sie denn, dass es sich um echte Polizisten gehandelt
hat?« Er schlug auf den Tisch und schrie empört:
»Und überhaupt lasse ich mir das von einer
gewöhnlichen Dirne nicht bieten!«
Das Wort hing in der Stille, die plötzlich eingetreten
war. Er starrte auf die Wand hinter ihr, da er ihr nicht ins
Gesicht zu schauen wagte.
Sie maß ihn mit einem Blick, der von oben nach unten
wanderte, von seinen leicht geröteten Wangen zu den
papierähnlichen Fingerknöcheln, mit denen er sich auf
den Schreibtisch stützte. »Ich schäme mich für Sie«,
sagte sie schließlich. »Ich hatte Sie immer für einen
Geschäftsmann gehalten. Ich dachte, Sie hätten die
Fähigkeit, die Dinge unvoreingenommen zu sehen und
fair zu handeln. Früher hätte ich mich wohl über Sie
geärgert, aber jetzt schäme ich mich nur. « Er entgegnete
nichts, als sie das Büro verließ.
Der Dienst habende Sergeant auf der nächstgelegenen
Polizeiwache war ein älterer onkelhafter Beamter, der
sich stirnrunzelnd und mitfühlend Sallys Geschichte
anhörte.
»Ihr Büro?«, erkundigte er sich. »Sie haben ein eigenes
Büro? Das ist aber schön. «
Sie blickte ihn aufmerksam an, er schien tatsächlich
zuzuhören. »Kamen die Polizisten von dieser
Polizeiwache?«, fragte sie ihn. »Ganz genau weiß ich das
nicht, Miss. Wir haben hier so viele Beamte. «
»Aber wenn es so wäre, müssten Sie wissen, was hier
vorgefallen ist. Sie haben Akten mitgenommen. Sie
müssen sie hierher gebracht haben. Ist denn niemand mit
Akten, Papieren und Briefen hereingekommen, die aus
einem Büro in der King Street stammten?« »Ach wissen
Sie, hier kommt viel Papier rein und geht wieder raus.
Sie müssten mir schon genauer beschreiben, um was es
sich handelt. « Er leckte an seinem Bleistift und dann sah
sie, wie er dem Wachtmeister am Schreibtisch neben sich
winkte und wie dieser junge Mann sich wegdrehte, um
ein Grinsen zu verbergen.
»Wenn ich es mir recht überlege«, sagte sie plötzlich,
»können Sie sich die Mühe sparen. «
Sie streckte aus Gewohnheit ihre Hand nach Chaka aus,
um die Wärme des treuen Hundes zu suchen, doch da
war kein Chaka.
Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie ging hinaus.
Sie kam nur zehn Minuten nach Fredericks Rückkehr
von seiner Reise in den Norden bei
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