Der Schatten im Norden
dampftetriebenes
Maschinengewehr, fahrbar auf Güterwagen.
So einfach war das!
Sie klappte das Buch zu und fühlte sich zufrieden wie
schon seit Monaten nicht mehr. Miss Walsh, dachte sie,
Sie bekommen ihr Geld zurück... Als sie das Gebäude
verließ und in die Chancery Lane bog, ertappte sie sich
bei einem Lächeln. Bei ihren Recherchen war ihr der
junge Mann mit der Melone entgangen, der am Lesetisch
neben der Tür gesessen hatte und seine Papiere faltete,
als sie an ihm vorbei hinausging. Sie hatte nicht bemerkt,
dass er gleich darauf aufgestanden und ihr nachgegangen
war. Er folgte ihr die Fleet Street hinunter bis zur
Prachtstraße und betrat denselben Teesalon an der Ecke
der Villiers Street, in dem sie einen Imbiss einnahm. Er
nahm am Fenster Platz und bestellte Tee und ein
Rosinenbrötchen, dann vergrub er sich hinter seiner
Zeitung.
Als sie wieder ging, verließ er ebenfalls das Lokal. Als
Kenner seines Fachs verstand er es, sich unauffällig zu
kleiden und nicht bemerkt zu werden. In der City fehlte
es nicht an Herren mit Melone, die sich alle ähnlich
sahen. Wie auch immer, Sally dachte an Frederick.
Um die gleiche Zeit war Frederick in Thurlby, wo die
Tests für das Dampfmaschinengewehr stattfinden sollten.
Das Schießgelände lang am Solway Firth, einem
Meeresarm. Es war ein flacher, öder Landstrich, wo es
nichts zu geben schien, außer einer trostlosen Ortschaft
und einer Eisenbahnlinie, die kilometerlang der Küste
folgte und dann hinter einem hohen Zaun und einem
verschlossenen Tor verschwand. Schilder mit der
Aufschrift >Lebensgefahr< warnten den Spaziergänger,
dem eine salzige Brise ins Gesicht wehte. Sonst war
nichts zu sehen.
Also reiste Frederick weiter nach Netherbrigg, der
kleinen Stadt auf der schottischen Seite der Grenze, wo
sich nach Jessie Saxons Angaben Mackinnon aufgehalten
haben sollte. Lord Wythams Anwesen war nur wenige
Kilometer entfernt auf der englischen Seite, doch dort, so
vermutete er, würde er kaum fündig werden. Er nahm ein
Zimmer im Gasthof King's Head in der Hauptstraße von
Netherbrigg und fragte den Wirt, ob bei ihm bisweilen
Leute vom Theater abstiegen.
»Nicht unter meinem Dach«, antwortete der
sittenstrenge Hausherr. »Von diesen gottlosen
Komödianten würde ich kein Geld annehmen. «
Immerhin gab er ihm eine Liste mit einschlägigen
Gasthöfen, und nach dem Mittagessen machte sich
Frederick daran, die Adressen abzuklappern. Unterdessen
war die Sonne herausgekommen, und ein frischer Wind
wehte durch die Straßen des Ortes, der wie jedes andere
Marktstädtchen aussah. Das Varietee-Theater war zurzeit
nicht in Betrieb; Frederick war überrascht, dass es
überhaupt ein solches Etablissement in einem Ort dieser
Größe gab. Doch auch in einer kleinen Stadt bedeuten
zwölf Adressen und kein Plan viel Lauferei für einen
Detektiv, und erst am späten Nachmittag fand er
schließlich, wonach er gesucht hatte. Es war die neunte
Adresse auf der Liste, eine Pension in der Dornock
Street, eine heruntergekommene Ecke mit einer tristen,
grauen Kapelle. Der Name der Wirtin war Mrs. Greary,
und sie nahm nach eigener Aussage Fremde aller
Gewerbe auf. »Auch Varieteekünstler, Mrs. Greary?«
»Bisweilen schon. Ich bin nicht so ehrpusselig. «
»Kennen Sie einen Mann namens Alistair Mackinnon?«
Ihre Augen blitzten auf und sie lächelte. Mit ihr konnte
man reden. »Ah«, sagte sie. »Der Magier. «
»Ganz richtig. Ich bin ein Freund von ihm und - darf ich
einen Augenblick reinkommen?«
Sie ließ ihn in den Flur. Die Diele roch nach
Bohnerwachs und die Wände waren mit einem Dutzend
Theaterfotos dekoriert. »Wirklich sehr nett von Ihnen«,
sagte Frederick. »Ich komme in einer heiklen
Angelegenheit. Mackinnon ist in ziemlichen
Schwierigkeiten, und ich bin rauf in den Norden
gekommen, um zu sehen, ob ich ihm helfen kann. «
»Wundert mich nicht«, kommentierte sie trocken. »Oh?
Hatte er früher auch schon Schwierigkeiten?« »So könnte
man es nennen. « »Welcher Art waren denn die
Schwierigkeiten?« »Darüber zu reden wäre doch
indiskret, oder?« Frederick holte tief Luft.
»Mrs. Geary, Mackinnon ist in wirklicher Gefahr. Ich
bin Detektiv und versuche herauszufinden, was ihn
bedroht, um ihm besser helfen zu können. Leider kann
ich ihn nicht selbst fragen, weil er verschwunden ist.
Versuchen wir der Reihe nach vorzugehen. Kennen Sie
eine Mrs. Budd?«
Ihre Pupillen wurden eine Spur schmaler. »Kenn ich«,
sagte sie. »Hat sie einmal hier gewohnt?« Sie
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